Bei allen Beschwichtigungen und Dementis öffnete einzig Tim Wiese für wenige Sekunden sein Herz. Er sei "geschockt" gewesen, als er rund 24 Stunden zuvor die Meldung vernommen hatte, dass Naldo um einen Transfer in seine brasilianische Heimat gebeten hat.
"Es wäre unendlich traurig. Ich spiele schon sechs Jahre mit ihm zusammen. Er ist für uns ganz wichtig, ein unheimlich guter Spieler, einer der besten Innenverteidiger der Bundesliga", sagte Wiese, der ob seines im Sommer auslaufenden Vertrags ebenfalls über seine Zukunft in Bremen grübelt.
Wiese: "Wenn Naldo geht, entsteht ein Loch. Er war genauso eine Stütze wie Per Mertesacker. Wenn ausgerechnet diese beiden Spieler innerhalb eines halben Jahres gehen würden, wäre das bitter."
Naldo, Allofs, Schaaf und das mysteriöse Gespräch
Inwiefern der Torwart seine eigene Entscheidung von einem Weggang Naldos abhängig macht, ließ er unbeantwortet. Es wäre wohl auch zuviel der Offenheit gewesen nach all den Turbulenzen.
Am Abend zuvor hatte sich nach der ersten Übungseinheit des Trainingslagers im türkischen Belek eine seltsame Szene ereignet, die etliche Fragen aufwarf: Der wechselwillige Naldo sowie Trainer Thomas Schaaf und Geschäftsführer Klaus Allofs verharrten auf dem Platz und diskutierten für mehrere Minuten rege miteinander.
Sie standen zu weit weg, als dass die Beobachter etwas hätten verstehen können, dennoch ließ die Gestik und Mimik mehr auf einen Disput als ein übliches Gespräch schließen. Dem sei aber nicht so, ließ Werder wissen: "Es ging hundertprozentig nur um Naldos Verletzung, sonst hätte nicht die medizinische Abteilung in der Nähe gestanden."
"Reizung an der Außenseite des linken Knies"
Dass die Medien darüber spekulieren würden, dass die Verletzung nur gespielt und ein Teil einer möglichen Charade von Naldo sein könnte, um einen Transfer zu erzwingen, sei "absolut aus der Luft gegriffen". Daher wurde schnellstmöglich eine Diagnose gestellt (Schaaf: "Reizung an der Außenseite des linken Knies") - doch diese hätte weiterer Erklärungen bedurft.
Auf die Frage, wie lange denn Naldo ungefähr fehlen werde, blieb Schaaf so stoisch und unkonkret wie möglich: Man könne fast gar nichts sagen. "Wir werden weitere Untersuchungen vornehmen. Vielleicht geht es wieder, vielleicht fällt er ein paar Tage aus, wir werden sehen, was kommt."
Am Abend zuvor war sein Gemüt nach der besagten Einheit noch wesentlich aufgeregter: "Wenn am ersten Tag gleich ein Spieler ausfällt, glauben Sie, da freue ich mich? Wir wollen hier an unserem Defensivverhalten arbeiten, dafür brauchen wir Naldo. Wir machen uns Sorgen, weil er eine wichtige Person für uns ist."
Naldo will, darf aber nicht
Schaafs Laune aber dürfte nicht nur mit dem Ausfall des wichtigsten Abwehrspielers zu erklären sein. Vielmehr ist er auch zwischenmenschlich enttäuscht. Zu vehement versucht sich der Brasilianer eine Zukunft beim gut bezahlenden Internacional Porto Alegre herbeizureden. Bei Internacional würde er besser verdienen, bessere Chancen auf die WM 2014 besitzen und ohnehin ein besseres Leben führen, weil er in seine Heimat zurückkehren würde.
"Wir haben Naldo, während er verletzt war, anderthalb Jahre - gefühlt sogar noch länger - einen Platz frei gehalten. Das hätten wir nicht getan, wenn wir nicht etwas von ihm wollen. Er hat einen Vertrag unterschrieben, der ihn an Pflichten bindet. Dann kann man eben nicht alle persönlichen Interessen umsetzen", sagte Schaaf vor dem Abflug in die Türkei.
Seitdem mag bei Werder niemand allzu lange über die Personalie Naldo sprechen. Dabei könnte sie maßgeblich sein für die Zukunft des Vereins, der mit Platz fünf eine überraschend gute Hinrunde abschloss, wegen den Klatschen gegen die Top-4-Teams (vier Niederlagen in vier Spielen bei 1:16 Toren) sich selbst jedoch ein Rätsel ist.
Pizarro-Entscheidung erst im Frühjahr
Mehmet Ekici etwa sagte, dass die Champions-League-Plätze erreichbar seien, Wiese wiederum gab sich bei weitem nicht so zuversichtlich. Denn: Ein Naldo-Transfer würde mannigfaltige Auswirkungen haben. Der sportliche Substanzverlust ist offensichtlich gedenk der Tatsache, dass er trotz der 15-monatigen Pause Bremens mit Abstand bester Defensivspieler war.
Ein Verkauf könnte jedoch auch das falsche Signal an die anderen Leistungsträger senden: "Ist Werder ambitioniert genug für mich?", werden sich Torjäger Claudio Pizarro, Stammkeeper Wiese, Kapitän Clemens Fritz und Top-Zugang Sokratis fragen. Sie alle sind ab dem Sommer 2012 nicht mehr an Bremen gebunden oder können wie Pizarro den bis 2013 datierten Vertrag einseitig kündigen.
Und Pizarro spielt weiter auf Zeit. Am Donnerstagnachmittag erklärte er, dass er Werder, das sich klar zu ihm bekannte, noch bis zum Frühjahr warten lassen wolle: "Eine Entscheidung fällt im März oder April."
Zwölf Verträge laufen aus
Ein erstes loses Ablöseangebot für Naldo aus Porto Alegre über angeblich eine Million Euro lehnte Allofs ab. Dennoch sagt der Geschäftsführer Sätze wie: "Unverkäuflich ist bei uns niemand" oder "Im Moment ist kein Angebot für Naldo da". Im Moment.
Ebenfalls kein Ausbund an Optimismus ist Allofs bei Pizarro und Wiese. "Claudio dürfte wissen, dass er hier am richtigen Fleck ist. Aber kommt da jemand aus Katar oder China, der finanziell völlig unvernünftige Dinge tut, weiß man nie, was passiert", sagt Allofs der "Kreiszeitung".
Zu Wiese: "Tim ist zweiter Torwart der Nationalmannschaft und braucht für seinen weiteren Weg gewisse Voraussetzungen." Und diese wären: eine angemessene Entlohnung und eine sportliche Perspektive.
Fritz wiederum muss bei aller Wertschätzung und der Kapitänsbinde eine empfindliche Gehaltskürzung akzeptieren, sollte er in Bremen bleiben wollen: "Clemens weiß, dass die letzten Jahre finanziell von unseren Champions-League-Teilnahmen geprägt wurden."
Insgesamt enden nach dieser Saison zwölf Verträge. Nimmt man Pizarro hinzu, sind es 13. Fast ein halber Profi-Kader. Davon betroffen sind neben den Leistungsträgern wichtige Ergänzungsspieler (Prödl, Rosenberg), Rekonvaleszenten (Silvestre, Boenisch, Borowski) und Talente mit besseren (Thy) und schlechteren Aussichten (Ayik).
Umbruch im Sommer
Der Sommer wird eine Zäsur oder zumindest einen Umbruch bringen. Die zentrale Frage lautet: Nach welcher Philosophie soll die Mannschaft zusammengestellt sein? Allofs deutete zuletzt an, dass der südamerikanische Markt nach zahlreichen Transfer-Flops weniger interessant sei, dafür wolle man die Werder-Jugend stärken: "Die erste Option ist, Spieler aus dem eigenen Klub hochzuziehen", sagte er der "Bild".
Nur: Florian Trinks, Lennart Thy und Felix Kroos bekamen bereits Spielzeit und boten sich nur bedingt an. Weiteren Jugend-Nationalspielern wie Clemens Schoppenhauer (U 20), Florian Hartherz, Tom Trybull, Niclas Füllkrug oder Özkan Yildirim (alle U 19) mangelt es vielleicht nicht an Begabung, dafür an Erfahrung und Reife.
Bliebe der Zukauf von Talenten aus anderen Klubs - doch in den letzten Jahren setzte ein Verdrängungsprozess innerhalb der Bundesliga ein, der Werder zu den Verlierern machte. Vom bisher enttäuschenden Ekici abgesehen, der mit einer Ablöse von fünf Millionen Euro das Etat und den Hausfrieden enorm belastete, gilt Werder im Bieten um die größten deutschen Hoffnungen als nur noch bedingt wettbewerbsfähig.
Ohne Europa geht wenig
Marco Reus bewegte sich auf einem anderen Preisniveau, auch Genuas Alexander Merkel dürfte nicht erschwinglich sein. Aber selbst bei Leo Bittencourt (wie Reus nach Dortmund), Roman Neustädter (wahrscheinlich Schalke) oder Maximilian Beister (wahrscheinlich zurück nach Hamburg) gehörte Bremen nicht einmal gerüchteweise zu den Kandidaten, obwohl jeder dieser Spieler Werder weiterhelfen könnte.
Allofs im "Kicker": "Ich weiß, dass Werder insgesamt mit geringeren Finanzmitteln auskommen muss als die meisten unserer Konkurrenten um die Eurocup-Plätze." Eine Aussage, die spätestens im Trainingslager in Belek keinen mehr überrascht.
Der Kader von Werder Bremen im Überblick