Ex-BVB-Physiotherapeut Kuhnt im Interview: "Mit Tuchel hat es total Spaß gemacht"

Peter Kuhnt nach seinem letzten Bundesligaspiel mit dem BVB
© imago

Peter Kuhnt war 23 Jahre lang Physiotherapeut bei Borussia Dortmund, im Sommer beendete der 55-Jährige seine Karriere. Im Interview spricht Kuhnt über seine Anfänge im Profifußball, den Alltag als Physiotherapeut, die Zusammenarbeit mit Thomas Tuchel und den Anschlag auf den Mannschaftsbus des BVB.

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SPOX: Herr Kuhnt, zum Ende der letzten Saison haben Sie nach 23 Jahren als Physiotherapeut beim BVB aufgehört. Stimmt es, dass Sie im Juli 1994 auf Empfehlung von Stefan Reuter nach Dortmund kamen?

Peter Kuhnt: Ja. Ich war damals beim 1. FC Nürnberg, dessen Rehazentrum eine Kooperation mit dem bekannten Physiotherapeuten Klaus Eder hatte. Eines Tages war Stefan in Nürnberg und man suchte nach einem Therapeuten für ihn. Ich habe ihn behandelt und wir kamen ins Gespräch. Er meinte, der BVB suche auf dieser Position und schließlich hat er mich im März in Dortmund vorgeschlagen. Ich hatte keine Ahnung vom BVB und wusste nicht, welche Vita und Ausstrahlung dieser Klub überhaupt hat. Wir sind mit dem Club immer dorthin gefahren, haben einen auf den Sack gekriegt und sind wieder nach Hause. Ich habe damals die Gunst der Stunde genutzt. Dass daraus 23 Jahre geworden sind, ist eigentlich verrückt.

SPOX: Zuvor waren Sie ab 1986 für vier Spielzeiten beim damaligen Regional -und Landesligisten Fürth, anschließend für vier Jahre in Nürnberg. Wie sind Sie überhaupt mit dem Fußball in Berührung gekommen?

Kuhnt: Ich habe selbst wenig erfolgreich in der fränkischen Schweiz gespielt und eine Chance gesucht, irgendwie in diesen Bereich hinein zu kommen. In Forchheim gab es einen Masseur, zu dem alle Verletzten gepilgert sind. Ich habe mir dann angeschaut, wie der gearbeitet hat: Unterwassermassagen, Abreiben mit Eisblöcken - das darfst du heute eigentlich keinem mehr erzählen. Mich hat das aber so fasziniert, dass es mein Traumziel wurde, im Fußball zu arbeiten.

SPOX: Das hat bereits im Alter von 24 Jahren geklappt. Wie sind Sie letztlich in Fürth untergekommen?

Kuhnt: Ich habe kurze Zeit im Klinikum Nürnberg gearbeitet und dort mit einer Gruppe Fußball gespielt. Einer der Jungs rief mich an und sagte, die Fürther würden einen Physio suchen. Ich habe dort angerufen, bin hingefahren und innerhalb einer Viertelstunde waren wir uns einig. Der ehemalige Bundesligatorwart Paul Hesselbach war dort Trainer und ließ täglich unter Profibedingungen arbeiten. Das war ein toller Start.

SPOX: Und wie lief 1990 der Wechsel nach Nürnberg ab?

Kuhnt: Ich war grundsätzlich immer sehr daran interessiert, mich weiter zu entwickeln und habe mehrere Fortbildungen besucht. Bei einer habe ich jemanden kennengelernt, der bei Klaus Eder gearbeitet hat. Damals suchte der Club über den Klaus einen Physio. Irgendwann fiel mein Name, ich bekam einen Anruf und dann war ich plötzlich mit 27 Jahren ganztägig in der Bundesliga aktiv. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich das erste Mal in den Mannschaftsbus eingestiegen bin. (lacht)

SPOX: Als Sie mit Anfang 30 erstmals Ihre fränkische Heimat verließen und nach Dortmund zogen, hätten Sie sich da vorstellen können, es so lange im Ruhrgebiet auszuhalten?

Kuhnt: Nie im Leben. Zumal ich auch immer ein bisschen Richtung München geschielt habe, um dort vielleicht eine Stelle zu finden. In Dortmund wurden wir aber in den ersten zwei Jahren gleich deutscher Meister und gewannen im dritten die Champions League, so dass es quasi gar keine Alternativen mehr für mich gab. Ab dann zogen die Jahre nur so ins Land.

SPOX: Beim BVB unter Ottmar Hitzfeld reisten Sie plötzlich um die ganze Welt. Wie hat sich das anfangs angefühlt?

Kuhnt: Das ist schwer zu beschreiben. Man findet sich relativ schnell in diesem Rad wieder, das sich pausenlos mit immer neuen Reisezielen weiterdreht. Der Fußball hat mich um die ganze Welt gebracht, ich hatte so viele schöne Erlebnisse. Die spüre ich heute noch.

SPOX: Hatten Sie sich zuvor eigentlich mit Hitzfeld getroffen?

Kuhnt: Zunächst traf ich mich mit dem damaligen Manager Michael Meier, eines Tages kam Ottmar in einem Hotel hinzu. Ich weiß noch, wie er mich fragte: Können Sie auch einen Beckenschiefstand beheben? Das war ihm ganz wichtig, weil er so darauf fixiert war, dass ein Beckenschiefstand bei Spielern unheimlich viel auslösen würde. Das stimmt zwar, ist aber letztlich Definitionssache. Ich antwortete nur: Ja, das kriege ich hin. (lacht)

SPOX: Nicht erst beim BVB dürften Sie gemerkt haben, dass es in Ihrem Job so gut wie keine Trennung zwischen Privat- und Berufsleben gibt. Wie haben Sie die Balance bewahrt?

Kuhnt: Anfangs waren wir noch zu zweit. In einer Champions-League-Woche bedeutete das, zwei Mal pro Woche zu Hause schlafen zu können. Ich habe mir darüber aber nie Gedanken gemacht, weil ich erzogen wurde, zu arbeiten und Leistung zu bringen. Ich habe mich immer in den Dienst der Sache gestellt, ganz unabhängig vom Tag oder der Uhrzeit. Diesen Job kann man nur so machen. Es braucht aber auch eine Familie, die das toleriert.

SPOX: Wie sah in einer normalen Trainingswoche Ihr Alltag aus?

Kuhnt: Gerade zu Beginn haben wir die Dienste aufgeteilt, oft haben wir aber auch zu zweit gearbeitet. Montags war meist frei, Dienstag zwei Mal Training und man war den ganzen Tag weg. Mittwoch, Donnerstag und Freitag war jeweils einmal Training, so dass man einen halben Tag frei hatte. Freitagabend sind wir ins Hotel gefahren und haben dort gearbeitet, samstags am Spieltag sowieso, Sonntag ebenfalls. So kommt man in einer normalen Woche auf 56 Stunden. Erst in den letzten beiden Jahren unter Thomas Tuchel hat es sich etwas gelockert. Wir waren dann nicht mehr so häufig im Hotel und trafen uns an Heimspielen erst am Mittag. Diese Lebensqualität kam leider etwas zu spät. Wenn diese Lockerheit etwas eher Einzug erhalten hätte, hätte ich vielleicht noch ein paar Jahre gemacht.

SPOX: Konnten die Spieler selbst entschieden, wann Sie auf Ihre Dienste zurückgreifen?

Kuhnt: Mal so, mal so. Man muss als Therapeut begreifen, dass Leistungssportler immer Probleme mit sich herumtragen und ihr Körper hundertprozentig funktionieren muss. Die Jungs wollen alles aus dem Weg geräumt haben, was ihre Leistung irgendwie hemmen könnte. Ihr medizinisches Wissen hat sich mittlerweile auch sehr verfeinert. Und dann guckt man halt fünf Mal nach, obwohl es nach dem dritten Mal eigentlich schon reichen würde. Manchmal dachte ich da schon: Mein Gott, jetzt kommt der schon wieder. Doch wenn die Jungs zufrieden sind, war man auch selbst zufrieden.

SPOX: Was passierte, wenn ein Spieler oder der Verein spontan bei Ihnen anrief und Ihre Hilfe benötigte?

Kuhnt: Ich erinnere mich noch an 1996, als sich Steffen Freund bei der EM in England verletzte und mich Dr. Müller-Wohlfahrt während meines Urlaubs anrief. "Peter, du musst morgen in die USA fliegen. Wir brauchen jemanden, der Steffen begleitet", sagte er. Da es ein Spieler des BVB war, kam es natürlich auch so. Ich habe die OP begleitet und betreut und ihn noch in den USA am Knie behandelt. Mit Paulo Sousa musste ich drei Stunden nach unserer Ankunft aus Bukarest meinen Koffer umpacken und zu einer OP nach Paris fliegen. Solche Anrufe gab es häufig.

SPOX: In der letzten Sommerpause haben Sie Marco Reus im Urlaub begleitet.

Kuhnt: Ich bin ihm nach Kreta hinterhergeflogen. Unsere Hotels lagen fünf Fahrtminuten auseinander. Wir haben uns abends verabredet, zweieinhalb Stunden gearbeitet und uns am nächsten Tag wieder getroffen. Die restliche Zeit stand zur freien Verfügung, aber irgendwann will man einfach nicht mehr alleine von zu Hause weg sein, da man seine Familie eh zu selten gesehen hat.

SPOX: Inwiefern spürt man denn Druck, einen wichtigen verletzten Spieler so schnell wie möglich wieder fit zu bekommen?

Kuhnt: Den Druck hat man immer, da man im Sport nie Zeit hat. Du hast den Druck, unter den du dich selbst setzt, den Druck des Spielers und den des Vereins. Das hat sich aber nie in irgendeiner Art böse angefühlt. Es gibt ja immer Argumentationen, da unheimlich viele Faktoren dazu gehören, warum ein Spieler nicht fit wird. Bei dem einen oder anderen Trainer war das aber schon deutlich schwieriger, das muss ich klar sagen.

SPOX: Was hatten Sie denn am Spieltag selbst zu tun?

Kuhnt: Wir haben nach Ankunft im Stadion unsere Sachen aufgebaut und in erster Linie Tapeverbände bei den Spielern angelegt, da viele von ihnen instabile Gelenke haben. Dann haben wir sehr viele Rücken kontrolliert und geschaut, dass sie gerade sind. Man gibt kleine Massagen, kurze Auflockerungen oder trägt Wärmesalben auf den Rücken oder an den Adduktoren auf. Wenn die Spieler zum Warmmachen gingen, ließen sie uns schweißgebadet in der Kabine zurück. (lacht) Wenn das Spiel läuft, fiebert man auf der Bank gerade bei angeschlagenen Spielern mit, dass sie durchhalten und nicht mehr zu dir kommen müssen, weil das dann ein persönlicher Erfolg war. Nach dem Spiel versorgt man mit viel Eis die Schläge, die die Spieler abbekommen haben. Andere wollen dagegen sofort ihre Problemregionen behandelt haben. Anschließend packt man alles zusammen und fährt entweder noch zum Trainingsgelände oder nach Hause.

SPOX: Wenn das Spiel läuft, kann man aber 90 Minuten entspannt zugucken?

Kuhnt: Das kommt wieder auf den Trainer an. Bei manchen geht das, bei anderen musst du immer wach sein. Wenn du da eine Millisekunde zu spät siehst, dass ein Spieler etwas zu trinken will, kann es äußerst unangenehm werden.

SPOX: Inwiefern hat sich denn die Behandlung gewisser Blessuren verändert?

Kuhnt: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Wie ich in Nürnberg Reiner Wirschings Innenbanddehnung behandelt habe, das tut mir jetzt noch leid. (lacht) Das macht man heute ganz anders. Die Lehrgänge und Fortbildungen haben mich am Nabel der Zeit gehalten. Ich war auch häufig bei Klaus Eder, um Neuerungen aufzusaugen und mein Level hoch zu halten.

SPOX: Die Belastung der Spieler hat sich in all der Zeit erheblich gesteigert. Kamen dadurch auch sozusagen neue Verletzungen auf?

Kuhnt: Ja. Anfangs traten häufig Gelenkprobleme oder Kreuzbandrisse auf. Die sind deutlich weniger geworden, obwohl sich die Belastung im Profifußball so stark verändert hat. Mittlerweile haben viele Schambeinentzündungen, da der Rücken und der Beckenring einfach die Schwachpunkte der Zweibeiner sind. Das sind dann Überlastungserscheinungen, die sehr schwierig zu behandeln sind, da sie enorm komplex sind und man anfangs nur Ruhe walten lassen kann. Grundsätzlich kam 2006 durch Jürgen Klinsmann eine Fitnesswelle auf, die beispielsweise das Berufsbild Athletiktrainer mit sich brachte. Früher haben wir Physios die Rehabilitation und das Krafttraining noch selbst gemacht. Doch ohne den starken Fokus auf das Athletiktraining könnte man heute nicht auf diese Weise Fußball spielen. Das geht nur, wenn man seinen Körper bis aufs Äußerste ausgelastet und trainiert hat.

SPOX: Ist es in Ihren Augen zu viel, was den Spielern zugemutet wird?

Kuhnt: Die Belastung ist, wie sie ist. Das Entscheidende ist, dass man in der Zeit, in der kein Spiel ist, enorm zurückfährt. Dies ist zum Beispiel unter Thomas Tuchel super gemacht worden, weil unter ihm die Trainingssteuerung zwischen zwei dicht aufeinanderfolgenden Spielen viel intelligenter geworden ist. Man hat die Überwachungssysteme am Trainingsgelände, die Spieler trainieren zudem mit Pulsmesser. Aus diesen Faktoren sammelt man Fakten und sieht recht schnell, wann ein Spieler kaputt ist und wann nicht. Zumal sich Belastungen nicht vergleichen lassen. Wenn ein Triathlet eineinhalb Stunden auf dem Fußballplatz so läuft wie die Jungs, dann macht der am nächsten Tag keinen Schritt mehr.