Zurückhaltung ist nicht Julian Nagelsmanns Ding. Nicht sportlich, aber auch nicht gesamtgesellschaftlich.
Nagelsmann äußert sich. Immer und unverblümt. Manchmal vielleicht auch zu unverblümt. Er rechnet gerne mit Menschen, Institutionen und Werten ab. In der Vergangenheit ging er deswegen auf Silvester los, bezeichnete den Umgang der Menschen miteinander als "schlimm", äußerte sich zur Terrorgefahr und politischen Themen und übte scharfe Kritik am explodierenden Kapitalismus.
Letzteres Phänomen betonte er erst kürzlich noch einmal im Interview mit 11Freunde: "Das große Problem unserer Gesellschaft ist der Hang nach Maximierung. Es geht nur noch darum, krasser zu sein als der Nachbar. Das größte Auto, das größte Bankkonto, das größte Haus zu haben", sagte Nagelsmann, um nachzuschieben: "Da will ich nicht dabei sein."
Julian Nagelsmann lehnt Angebot von Real Madrid ab
Nicht dabei sein wollte er deswegen bei Real Madrid. Noch nicht. Der Weltklub hatte Nagelsmann eine Offerte unterbreitet. Das Trainertalent hätte bei den Königlichen im Sommer Nachfolger von Zinedine Zidane werden sollen. Aber Nagelsmann lehnte ab. Stattdessen wolle er "logisch wachsen. Das geht aber nicht allein über Maximierung, sondern über die Aufgabe, die sich mir stellt".
Nagelsmann entschied sich für einen anderen Weg. Dieser liegt er in der Zukunft vorerst nicht bei Real Madrid, sondern zunächst noch eine Saison bei der TSG Hoffenheim und dann ab 2019 für vier Jahre bei RB Leipzig. Auch weil er zuversichtlich in die Zukunft blickt: "Es ist nicht so, dass ich nicht über das Angebot nachgedacht habe. Wer würde wegdrücken, wenn Real Madrid anruft? Aber ich bin in der komfortablen Lage, dass ich jung bin. Wenn meine Trainerkarriere einigermaßen weiterläuft, bietet sich vielleicht später noch einmal die Gelegenheit, einen Verein in dieser Kategorie zu übernehmen."
RB Leipzig für Nagelsmann größerer Schritt als gedacht
Einen Verein, der zumindest qua Selbstverständnis und finanziellem Potential eine Kategorie über Hoffenheim liegt, ist Leipzig definitiv. Der Schritt zum ambitionierten Brauseklub ist nachvollziehbar und klingt tatsächlich nach logischem Wachstum.
Nagelsmann aufgrund dieser Entscheidung zu unterstellen, seine Karriere auf den Grundpfeilern Zurückhaltung und Demut aufzubauen, greift dennoch zu kurz. Vielmehr ist der Wechsel eine bewusste Karriereentscheidung mit Hintergedanken. Ein Schritt nach dem anderen will er zwar machen, allerdings ist Leipzig mit den Möglichkeiten und auch den Erwartungen ein größerer Schritt, als er auf den ersten Blick wirkt.
Mit Nagelsmann hat RB ein gewichtiges Argument in Verhandlungen mit Spielern auf seiner Seite, zuletzt stellte Timo Werner wegen des Trainercoups einen langfristigen Verbleib in Aussicht.
Nagelsmann: Wechsel zu RB Leipzig ein versteckter Angriff
Die Vorzeichen für eine Zusammenarbeit sind aussichtsreich: Spielstil, Jugendorientierung und Ausrichtung passen zusammen. Darüber hinaus steht Nagelsmann in Leipzig nicht so sehr unterm Brennglas, als wenn er direkt zu Bayern, Dortmund oder Real gewechselt wäre. Der Wechsel zu Leipzig ist also nur vorgeschobene Zurückhaltung, in Wahrheit aber ein versteckter Angriff.
Der frühe Kommunikationszeitpunkt bereits eine volle Saison vor dem Wechsel stellt alle Seiten vor eine riesige Herausforderung, insbesondere natürlich Nagelsmann. Der 31-Jährige begründete es mit dem Druck: "Mir ging es bei der Entscheidung um die innere Ruhe. Denn die Spekulationen hätten ja nicht aufgehört. Wenn Niko Kovac oder Lucien Favre nicht so erfolgreich wie erwartet arbeiten, wäre es gleich wieder losgegangen. In der vergangenen Saison war ich zeitweise jeden Tag bei einem anderen Klub im Gespräch: Tottenham, Arsenal, Dortmund, Bayern - was weiß ich. Das hat auch bei den Spielern für Unruhe gesorgt."
Herausforderung für Nagelsmann
Zwar hat Nagelsmann damit im Kern Recht. Aber: Sollte es andererseits bei Hoffenheim nicht so rund laufen wie erhofft, dann könnte die Unruhe ebenfalls einkehren. Ist er mit dem Kopf noch da? Ist das Modell, einen Wechsel zu einem Konkurrenten so früh bekannt zu geben, falsch? Das sind Fragen, die zwangsläufig kommen würden.
Womöglich spielt Nagelsmann dabei in die Karten, dass Hoffenheim keine ganz so meinungs- und lautstarke Anhängerschaft hat wie beispielsweise Eintracht Frankfurt, wo Niko Kovac nach der Kommunikation von dessen Bayern-Wechsel heftiger Gegenwind ins Gesicht blies.
Einfach wird die Situation aber auch bei der TSG ganz und gar nicht. Zumal die Messlatte nach der Entwicklung der letzten Jahre hochliegt - und Nagelsmann mit forschen Aussagen im Laufe der Vorbereitung die hohen Erwartungen auch weiter befeuerte. So sagte er: "Wir wollen das Ergebnis der Vorsaison toppen, die Gruppenphase in der Champions League überstehen und im DFB-Pokal besser abschneiden als bisher."
Nagelsmann will mit Hoffenheim Meister werden
Bei der TSG ging es für Nagelsmann - zumindest gemessen am jeweiligen Endresultat - ausschließlich nach oben. Nach seiner Amtsübernahme eines beinahe sicher feststehenden Absteigers im Frühjahr 2016 führte er Hoffenheim erst zum Klassenerhalt, dann auf Platz vier und schließlich in der Vorsaison auf Platz drei und erstmals in die Champions League.
Aber weil Zurückhaltung auch in sportlicher Hinsicht nicht Nagelsmanns Ding ist, prescht er einmal mehr nach vorne: "Ich strebe immer nach dem Maximalen. Und das Maximale ist der Meistertitel." Mindestens gewagt.
Hoffenheim hat sich spielerisch entwickelt, die Abgänge kompensiert und die Mannschaft darüber hinaus gezielt ergänzt. Der Kader ist nach dem Rekordergebnis mit Platz drei nicht ausgeblutet. Darüber hinaus sieht Nagelsmann die Mannschaft nach der Vorbereitung gerüstet und attestiert ihr, "weiter als im Vorjahr" zu sein.
TSG Hoffenheim: Platzierungen unter Julian Nagelsmann
Saison | Punkte | Platzierung |
2015/2016 (Übernahme vor dem 21. Spieltag) | 37 (14 bei Übernahme) | 15. (17. bei Übernahme) |
2016/2017 | 62 | 4. |
2017/2018 | 55 | 3. |
BVB, Schalke, Leverkusen und Leipzig jagen den FC Bayern ebenfalls
Allerdings steht die TSG unter Nagelsmann auch noch den Beweis aus, mit der Dreifachbelastung klar zu kommen. In der Vorsaison krebste Hoffenheim im Herbst im grauen Mittelfeld herum, als die Europa League noch im Kalender stand.
Nagelsmann weiß, dass seine Zielausgabe mehr als ambitioniert ist. Aber Nagelsmann ist auch ein Medienprofi. Mit solchen Aussagen unterstreicht er sein 100-prozentiges Commitment für die Aufgabe in Hoffenheim und schärft zugleich sein Profil. Trotz seines jungen Alters fährt er den Kurs Breitseite. Seit der erfolgreichen Zeit des strategischen Understatements beim BVB in der Ära Jürgen Klopp hat sich nur selten jemand hingestellt und offen ausgesprochen, dass er die Bayern kitzeln möchte. Außer vielleicht Ralf Rangnick. Diesem dürften die Aussagen seines baldigen Trainers entsprechend gut gefallen, denn so eine Einstellung will er auch in Leipzig sehen.
Auch dort scheißen sie auf Understatement. Auch dort ist Mittelmaß keine Option. Zurückhaltung ist eben auch nicht Leipzigs Ding.