Eigentlich konnte das ja gar nicht gut gehen. So wie der FC Bayern noch in der Vorsaison durch die Liga schwebte, glänzte und am Fließband traf, so quietschte und knarzte er sich zuletzt von Spiel zu Spiel. Achtmal in Folge lief der Rekordmeister einem Rückstand hinterher und sprang dem sprichwörtlichen Tod doch immer wieder wie gegen Mainz in der Vorwoche von der Schippe.
Doch am Freitagabend in Gladbach reichten selbst die aus Leon Goretzkas Sicht anfänglich "besten 30, 35 Minuten seit langem" nicht mehr. In denen war der Rekordmeister ausnahmsweise mal in Führung gegangen - und das sogar mit zwei Toren. Doch das langte nicht.
Und das konnte es auch gar nicht. Denn Gladbach ist sowas wie das Bundesliga-Kryptonit für sogar gut aufgelegte Bayern. Das 2:3 nach 2:0-Führung war am Ende so etwas wie ein Kollaps mit Ansage und die 22. Auswärtsniederlage beim Angstgegner vom Niederrhein. Bei keinem anderen Bundesligisten verloren die Bayern so oft und gegen keinen anderen Ligakonkurrenten kassierten sie dabei so viele Gegentore (87).
Doch das Toreschießen gegen den übermächtigen Branchenprimus aus dem Süden ist in dieser Saison so leicht wie seit 30 Jahren nicht mehr. Damals, in der Saison 1980/81, war es noch ein bisschen leichter. Da kassierten die Bayern 25 Gegentore zum gleichen Zeitpunkt, aktuell sind es 24. "Wenn man unser Spiel sieht, ist es schon auffällig, wo wir Probleme haben", sagte ein angefressener Trainer Hansi Flick nach dem Spiel - und damit hatte er Recht.
1. Das Bayern-Kaderproblem ist größer als bislang angenommen
Eines jener auffälligen Probleme der Bayern anno 2021 äußerte sich in der 87. Minute und war nicht unbedingt für jeden Zuschauer am TV-Bildschirm ersichtlich. Die Bayern drückten zu diesem Zeitpunkt auf den Ausgleich, hatten circa 20 Minuten zuvor damit angefangen, die defensiv konzentriert agierenden Gladbacher im eigenen letzten Drittel einzuschnüren.
"Crunchtime", wie man im Basketball sagt - oder im Bundesligafußballjargon: Zeit für die "Last-Minute-Bayern". Die Bayern, die gerne mal Spiele in letzter Sekunde zu ihren Gunsten drehen. In Leverkusen kurz vor Weihnachten wurde ihre Existenz einmal mehr bewiesen. Da wechselte Flick in der 68. Minute Comebacker Joshua Kimmich ein, der in der Nachspielzeit den Ball eroberte und für Lewandowski zum 2:1-Siegtreffer auflegte.
Doch gegen Gladbach kam es anders. Da wechselte Flick nur einmal, brachte Kingsley Coman für den abermals schwachen Douglas Costa nach einer knappen Stunde. Die Minuten verstrichen und in der 87. Minute, als er noch einmal die Brechstange hätte herausholen können, wenn nicht gar müssen, signalisierte er Jamal Musiala, Eric Maxim Choupo-Moting, Corentin Tolisso, Marc Roca, Jerome Boateng und Lucas Hernandez, dass sie sich wieder auf die Tribüne setzen sollen.
Ein einziger Wechsel während einer kraftraubenden Partie in der womöglich physisch herausforderndsten Saison der Bundesligageschichte? Das leuchtet weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick ein. Schon gar nicht, wenn man sich an Interviews von Bayern-Spielern aus der jüngeren Vergangenheit erinnert, die wie Leon Goretzka offen zugaben, "definitiv sehr müde" zu sein.
FC Bayern: Flicks Vertrauen in Ersatzspieler offenbar kaum vorhanden
"Es war einfach dem Spiel geschuldet", erklärte Flick auf der Pressekonferenz: "Alle, die auf dem Platz waren, haben - so habe ich den Eindruck gehabt - ihr Bestes versucht, um das Ergebnis zu wenden. Es hat mit dem Spielverlauf zu tun." Dabei betonte er explizit auf Nachfrage, dass diese Entscheidung "nichts mit der Qualität, die auf der Bank ist" zu tun gehabt habe: "Nein, nein, das ist überhaupt nicht der Fall."
Es fällt jedoch schwer, dem 55-Jährigen das angesichts der Personalentscheidungen, die er zuletzt getroffen hat, abzukaufen. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass er gegen Leverkusen weder auf den einsatzbereiten Benjamin Pavard noch auf den im Herbst verpflichteten Bouna Sarr setzte, sondern Niklas Süle als Rechtsverteidiger aufbot. Sarr stand trotz bester Gesundheit nicht einmal im Kader.
Flicks Vertrauen in seine Ergänzungsspieler, die vergangene Saison noch Ivan Perisic oder Philippe Coutinho hießen, scheint kaum vorhanden zu sein. Und das wäre angesichts der dürftigen Darbietungen von Douglas Costa, Sarr oder Roca nicht einmal unberechtigt. Während gerade Perisic vergangene Saison noch ein X-Faktor der Bayern-Bank war und auch Coutinho noch einmal einen Qualitätsschub bringen konnte, enttäuschen gerade die drei genannten Neuen bis dato. Der Eindruck, die Bayern-Bank habe im Transfersommer (und -herbst) an Klasse verloren und nur an Masse gewonnen, verfestigt sich immer mehr.
Mit Musiala, der in der aktuellen Spielzeit schon mehr als einmal überzeugte, und auch mit Choupo-Moting, der bei PSG noch in der vergangenen Saison ein unglaublich wichtiges Tor in der Nachspielzeit im Champions-League-Viertelfinale gegen Bergamo erzielte, hatte Flick jedoch durchaus sinnvolle Optionen in der Hinterhand. Aber er zog sie nicht.
2. Flick-Zeugnis für Costa: Bayern-Trainer wirkt angekratzt
Hansi Flick wirkt dieser Tage angekratzt. Schon vor der Pleite in Gladbach war ihm das anzumerken. So sah er sich beispielsweise am Donnerstag dazu genötigt, eine klare Ansage in puncto Transfers zu machen. "Ich bin überhaupt keiner, der sagt, ich möchte neue Spieler haben", erklärte er auf die Frage, ob noch mit Neuzugängen im Winter bei den Bayern zu rechnen sei.
"Ich weiß um die Situation des FC Bayern und dass die Situation sehr schwierig ist und schon im Sommer schwierig war", fügte er an. Für ihn sei das auch kein großes Problem, denn: "Ich sehe nicht groß, dass unsere Ziele gefährdet wären."
Zwei Tage später verlor er sein viertes von mittlerweile 60 Spielen mit den Bayern und wurde nicht etwa auf mögliche noch kommende Transfers angesprochen, sondern auf jene, die im Herbst getätigt wurden und diesbezüglich explizit auf einen: den von Douglas Costa.
Der Brasilianer wurde als vierte Option für die Flügel zurückgeholt - auf Leihbasis ohne Kaufoption von Juventus Turin. Als er 2015 erstmals für die Bayern spielte, sorgte er noch zu Beginn mit seinen Tempodribblings für Furore und bereitete in seinen ersten sieben Spielen zehn Tore vor. Davon ist aktuell nicht mehr viel übrig.
Flick blafft Reporterin an: "Verstehe die Frage nicht"
Costa, mittlerweile 30 Jahre alt, wirkt nicht mehr so explosiv wie früher, seine Dribblings verpuffen oftmals. So auch in Mönchengladbach, wo er für den verletzten Serge Gnabry und den angeschlagenen Kingsley Coman zum dritten Mal in der Bundesliga von Beginn an ran durfte. Sein erschreckender Arbeitsnachweis: 28 Ballkontakte, kein Torschuss, keine Torschussvorlage, elf Ballverluste, nur ein gewonner Zweikampf.
Coman, der ihn ab der 68. Minute ersetzte, sammelte in nur 26 Minuten gar einen Ballkontakt mehr. Und doch zog sich eine Reporterin Flicks Argwohn auf sich, als sie fragte, warum Costa "immer noch nicht so richtig in Fahrt" komme. "Douglas", so betonte Flick, "hat seine Sache so weit gut gemacht".
Er habe defensiv mitgearbeitet "und in der Offensive auch das eine oder andere versucht". Zwar müsse er nach wie vor an der Fitness arbeiten, aber er sei "auf einem guten Weg. Deswegen verstehe ich die Frage jetzt nicht", sagte der Bayern-Trainer, dem man anmerkte, dass er trotz des ab und an aufkommenden gequälten Lächelns zu später Stunde genervt war. Auch an Flick geht die hohe Belastung der Saison offenbar nicht spurlos vorbei.