Vormittags ist noch alles friedlich in Moskau. Die Menschen trauern, legen Kränze und Blumen nieder, sie zünden Kerzen an. Dazu tragen sie Fotos des Ermordeten mit sich. Egor Sviridov, der fünf Tage zuvor sein Leben ließ. Der sterben musste, weil eine Schlägerei zwischen Spartak-Fans und einer Handvoll Fremder zu einer Schießerei ausartete.
Über 5000 Menschen versammeln sich an jenem Tag zu einer Mischung aus Gedenkfeier und Protestmarsch. Protest deshalb, weil noch immer kein Strafverfahren gegen Sviridovs mutmaßlichen Mörder eröffnet wurde. Lange bleibt es friedlich.
Doch im Laufe des Tages wird die Stimmung aggressiver. Der Mob skandiert nationalistische Parolen, ruft "Russland den Russen". Denn der Mann, der Sviridov mit einer Gaspistole tödlich getroffen hatte, stammte aus dem Nordkaukasus. "Für diesen Mord werden eure Kinder bezahlen", drohen aufgebrachte Protestler.
Binnen kurzer Zeit wird aus der friedlichen Demonstration ein wütender, nach Rache lechzender Mob. Die Wut wird zu ungesteuerter Gier nach Lynchjustiz, Pogromstimmung entbrennt. Wahllos entlädt sich die Aggressivität.
Gewaltorgie nach Tod eines Spartak-Fans
An der Metro-Station Okhotny Ryad stürmen rund 50 Anhänger eine U-Bahn. Ein Mann, der seinen Gesichtszügen nach wohl aus Zentralasien stammt, ist der Erste, den sie sich zum Ziel nehmen. Drei junge Männer treten wie wild auf ihn ein, angefeuert von der aufgebrachten Masse. Nebenan auf dem Bahnsteig wird ein anderer verprügelt. Ein einzelner Polizist, der hilflos versucht einzugreifen, wird zum Gespött.
Insgesamt vier Menschen fielen in jener Nacht vom 11. Dezember 2010 in Moskau der tödlichen Gewaltorgie zum Opfer, Dutzende wurden verletzt. Willkürlich verprügelt von einer wild gewordenen Horde.
Die Verantwortlichen für die Eskalation hat der russische Innenminister Raschid Nugaliejwm schnell identifiziert. Die radikale jugendliche Linke sei schuld, sie hätte Unruhen provoziert und ausgelöst. Es wirkt fast bösartig zynisch mit Blick auf die rassistischen Parolen und rechtsradikalen Motive der Täter. Zumal sich zahlreiche nationalistische Organisationen an dem Protest beteiligt hatten.
Rassismus als Brandbeschleuniger
Auch der Fußball wollte damit nichts zu tun haben. Moskaus Vereine und Fanklubs distanzierten sich von den Geschehnissen. Sie hatten auch im Vorfeld offiziell davon abgeraten, am Protest teilzunehmen. Doch Sviridov war Spartak-Anhänger und besonders in Fan-Foren wurde der Aufruf zum Protest rasch verbreitet. Und so bestand die Masse letztlich zu einem Großteil aus Fußball-Anhängern.
Es ging sogar so weit, dass sich die verhassten Gruppierungen in manchen Bezirken zu Bürgerwehren vereinten, um sich gegen mögliche Angriffe von Kaukasiern zu verteidigen. Die Wut produzierte Loyalität und richtete sich nicht mehr aufeinander, sondern gegen einen gemeinsamen Feind.
Rassismus war letztlich der Brandbeschleuniger, der aus reiner Verärgerung über die zu langsam ermittelnde Staatsmacht einen ziellosen Hass gegen Andersstämmige machte.
So auch bei einer Horde Jugendlicher, die am 12. Dezember einen kirgisischen Bauarbeiter zusammenschlug. Alischer Schamschijew floh, um sein Leben fürchtend. Doch einer der Täter verfolgte ihn und rammte ihm ein Messer in die Brust. Schamschijew verblutete. Sein Mörder war ein 14-jähriger Spartak-Fan.
Rechtsradikale Strömungen in der Kurve
Die Ausschreitungen vom Dezember 2010 verdeutlichen Probleme, die Teil der russischen Gesellschaft und des Fußballs ins Russland sind: Eine überdurchschnittlich hohe Verbreitung rassistischer Ressentiments. Die Verflechtungen von Fußball und Gesellschaft sind dabei nicht immer eindeutig zu identifizieren.
Viele Rechtsradikale fühlen sich in Hooligan-Gruppierungen wohl, lassen unter der Flagge ihres Vereins ihren Hass heraus. Der Fußball dient dabei lediglich als Motiv zur Rechtfertigung und als Ventil zugleich. Andersherum gibt es in vielen Ultra-Gruppierungen bis heute klare rechte, teils radikale Strömungen - sei es subtil oder offensichtlich.
So auch bei ZSKA Moskau, das sein Spiel gegen Bayern wegen wiederholter rassistischer Vorfälle seitens der Fans vor leeren Rängen austragen muss. In der vergangenen Saison wurde Yaya Toure mit Affenlauten gedemütigt. Just in der Woche, in der die UEFA eine Anti-Rassismus-Aktion ausgerufen hatte.
"Es war sehr enttäuschend. Wir reden immer über Anti-Rassismus, aber das war unglaublich", klagte Toure, der sich noch während des Spiels beim Referee beschwerte. Bei ZSKA hingegen wollte keiner Affenlaute gehört haben: "Für ZSKA spielen Afrikaner und Brasilianer, von welchem Rassismus kann da die Rede sein?", so die simple Argumentation von Klubpräsident Jewgenij Giner.
Bananenwürfe aus dem VIP-Bereich
Man möchte ihm gerne gutgläubig Recht geben. Im Glauben, die Schmähungen Toures wären ein Einzelfall gewesen. Doch Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass Rassismus kein Einzelphänomen im russischen Fußball ist. "Solche Vorfälle gehören mittlerweile zum Alltag in den russischen Stadien", erklärt Pavel Klymenko vom Netzwerk "Football Against Racism in Europe" gegenüber der Tageszeitung "Neues Deutschland".
Das musste auch Roberto Carlos erfahren. Der brasilianische Star ging zu seiner Zeit bei Anschi Machatschkala einst tränenüberströmt vom Platz, nachdem er mit einer Banane beworfen worden war. Ähnlich erging es Ex-Hertha-Spieler Christopher Samba, auf den bei einem Auswärtsspiel bei Lokomotive Moskau aus dem VIP-Bereich Bananen flogen.
Auch bei Lokalrivale Spartak gab es reihenweise rassistische Vorfälle. 2009 gratulierte die Ultra-Gruppierung "Fratia" mit einem Transparent Adolf Hitler zu dessen 120. Geburtstag. "Herzlichen Glückwunsch, Opa!", stand darauf geschrieben. Auf anderen Spruchbändern war zu lesen: "Spartak nur für Weiße" oder "Affen, haut ab".
Ein diskriminierendes Manifest
Ähnlich fremdenfeindliche Tendenzen gibt es auch bei den Fans von Zenit St. Petersburg. Vor zwei Jahren veröffentlichte der Fanklub "Landskrona" ein Manifest, in dem sie ihre Anforderungen an Spieler und Verein kundtaten. Unter dem an sich aufrichtigen Wunsch nach einem traditionsbewussten Klub mit identitätsstiftenden Spielern wurden Grundsätze formuliert, deren diskriminierender Grundton mal mehr und mal weniger offensichtlich erkennbar ist.
"Wir sind keine Rassisten, aber wir halten es für eine wichtige Tradition, dass es bei Zenit keine schwarzen Spieler gibt", heißt es in einem Extra-Abschnitt, der sich speziell mit dunkelhäutigen Spielern befasst.
Im Unterpunkt "Mentalität (menschliche Qualitäten)" wiederum sind die wichtigsten Kriterien für Spieler zusammengefasst, die bei Zenit unter Vertrag stehen sollten. Darin heißt es unter anderem: "Wir sind dagegen, dass bei Zenit Vertreter sexueller Minderheiten spielen." Schon die Tatsache, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen unter "menschliche Qualitäten" eingeordnet wird, gibt reichlich Aufschluss über das Weltbild der Verfasser.
"Die dummen Leute kriegst du nicht los"
Mit dem rassistischen Gedankengut von Zenit-Fans wurde auch der Ghanaer Haminu Dramani konfrontiert. Er spielte bis 2011 für Lok Moskau, bis er sich endgültig nicht mehr wohl fühlte in Russland. "Wenn du gegen Vereine spielst, die keine Dunkelhäutigen in ihrem Team haben - vor allem in St. Petersburg - ist es wahnsinnig", klagte er. Dramani zog seine Schlüsse aus den eigenen Erfahrungen: "Ich würde niemals einem afrikanischen Spieler empfehlen, nach Russland zu gehen."
Heute liegen die Vorfälle Jahre zurück, St. Petersburg wirbt auf seiner Website für Toleranz und im Kader stehen auch dunkelhäutige Spieler. Doch die Rassismus-Problematik ist noch längst nicht aus der Welt. Dinamo-Stürmer Kevin Kuranyi antwortete erst kürzlich auf die Frage, ob Rassismus in Russlands Stadien immer noch ein Problem sei, mit: "Leider ja."
Am vergangenen Wochenende seien in der Partie gegen Torpedo Moskau die dunkelhäutigen Spieler seines Teams von gegnerischen Fans provoziert worden. "Das ist zum Verzweifeln, diese dummen Leute kriegst du nicht los", sagte Kuranyi der "Welt am Sonntag".
Rassismus als Resultat fehlender Fanarbeit
Zwar versuchen Vereine und Politik in den letzten Jahren vermehrt, rechtsradikale Straftaten und Vorfälle zu bekämpfen, doch oft kratzen die Verantwortlichen damit nur an der Oberfläche. Hier wird eine Organisation verboten, dort eine Strafe ausgesprochen. Doch an gezielten Kooperationen mit Vereinen und Fans mangelt es.
"Grundsätzlich ist Rassismus in Russland das Ergebnis fehlender Fanarbeit", äußerte Sportjournalist Juri Sokolow im Gespräch mit der Agentur "Rosbalt". Sein Fazit: "Die Fans machen auf den Rängen, was sie wollen." So auch im vergangenen Oktober, als Spartak-Fans in einem Pokalspiel eine überdimensionale Hakenkreuzfahne enthüllten.
Weil der Verein daraufhin vom Verband zwei Geisterspiele aufgebrummt bekam, verklagte der Klub kurzerhand den Besitzer der Hakenkreuzfahne auf 340.000 Euro Schadensersatz. Das zeigt zumindest: Die Sanktionierung radikaler Auswüchse werden tiefgreifender.
Symbolpolitik - und weiter?
Doch dies allein wird nicht reichen, um Fremdenfeindlichkeit im Fußball konsequent zu bekämpfen oder gar ein Umdenken in den Köpfen zu bewirken. Zusätzlich braucht es aufklärende Fanprojekte, bessere Kooperation von Klubs und Verband, konkrete Aktionen in den Stadion und noch viel mehr. Dagegen wirkt die reine Sanktionspolitik wie blanke Symbolik - gerade mit Blick auf die bevorstehende WM in Russland.
"Wir werden damit nach und nach fertig, das ist kein Problem", versucht Alexei Sorokin, der Leiter des russischen Bewerbungskomitees, zu beschwichtigen. Angesichts der jüngsten Vorfälle bleibt allerdings unklar, wie er die Rassismusproblematik bis 2018 eindämmen will.
Und Yaya Toure hat bereits angekündigt: "Wenn wir uns bei der WM nicht sicher fühlen, kommen wir nicht nach Russland."
Spartak Moskau im Steckbrief