Ausgerechnet der sonst so große Kritiker seiner eigenen Elf, Dieter Hecking, zog ein zufriedenes Fazit in Gent: "Vielleicht ist der Knoten jetzt auch für das Spiel in Berlin geplatzt. Wir haben lange auf ein Erfolgserlebnis in der Liga gewartet, jetzt haben wir auch hier gewonnen. So ein Spiel kann die Brust größer werden lassen", sagte der VfL-Trainer nach dem Sieg im Achtelfinal-Hinspiel.
Klar, ein 3:2-Sieg im Auswärtsspiel, das ist eine gute Ausgangslage für das Rückspiel am 8. März in der Volkswagen Arena. Und auch klar: 80 Minuten lang spielte der VfL den Außenseiter an die Wand. Das zuvor so euphorische Gent bekam phasenweise seine Grenzen aufgezeigt.
Klar ist aber auch: Wolfsburg brachte sich durch völlig überhebliche zehn Minuten zum Schluss fast noch um den gesamten Lohn. "Mit dem Wort Wende wäre ich vorsichtig. Leider haben wir den Gegner dazu eingeladen, nochmal zu zwei Toren zu kommen. Es war ein riesiger Kraftaufwand", sagte Hecking. Auch er sah: Noch nicht alles war wieder Jubel, Trubel, Heiterkeit beim VfL. Vielmehr zeigte sich ein altbekanntes Mentalitätsproblem.
Die Hinrunde lässt grüßen
"In neun Minuten das Spiel dermaßen aus den Händen zu geben, das habe ich so noch nicht erlebt. Ich fange aber nicht an, grundsätzlich an unserer Stabilität zu zweifeln", hatte Diego Benaglio in der Hinrunde nach dem 1:5 in München gesagt, als Robert Lewandowski seinen historischen Fünferpack schnürte.
"Mitte der zweiten Halbzeit haben wir die Kontrolle verloren und wurden hinten reingedrängt. Uns sind in den entscheidenden Momenten zu viele Fehler unterlaufen. Das ist es, was uns im Moment von den Punkten trennt und was wir besser machen müssen", bemängelte Klaus Allofs nach der 1:2-Niederlage in Manchester.
Es sind nur zwei Beispiele der Hinserie, in denen sich der VfL nach einer Führung selbst aus dem Konzept brachte und letztlich mit leeren Händen dastand. Diese Spiele waren es, die man in dieser Saison nicht mehr erleben wollte - so schwor man es sich in Wolfsburg.
Falscher Umgang mit der Führung
Nach dem beruhigenden 2:0-Sieg über Ingolstadt am Wochenende atmete die Autostadt schon einmal vorsichtig auf. Zuvor hatte der VfL aus fünf Pflichtspielen nur zwei Punkte geholt. Von einer sportlichen Krise zu sprechen, war wieder einmal erlaubt.
Als am Mittwochabend in der 59. Minute Max Kruse den nächsten überragenden Angriff der Gäste zum 3:0 vollendete, stieg diese Erleichtung ins Unermessliche. Es waren keine Steine, sondern gefühlte Gebirgsketten, die dem zuletzt nicht gerade verwöhnten VfL-Anhänger vom Herzen gefallen sein dürften.
Größter Fan der Mannschaft war zu diesem Zeitpunkt sicher Dieter Hecking.
Doch der Moment des Erfolgs wurde vom Team falsch interpretiert. Selbst die anschließend ausgelassenen Chancen zum 4:0 beziehungsweise Sven Kums' Lattentreffer waren dem VfL nicht Warnung genug, dass es - gerade in der Champions League - keine Ruhepolster gibt.
Das erkannte man erst nach dem Spiel. "Wir geben das Spiel leichtfertig aus der Hand. Wir haben vorher 80 Minuten volle Kanne gearbeitet und dürfen es dann nicht mehr so eng werden lassen", analysierte Kruse.
"Das darf man sich nicht erlauben"
Behäbig, leichtsinnig, schläfrig-arrogant ließ das bis dahin bewundernswerte Wolfsburger Team die Gastgeber durch die VfL-Hälfte marschieren. Gent war nach dem 0:3 am Boden. Nur die allergrößten Optimisten in der Ghelamco Arena glaubten noch an ein Zurückkommen in diesem Spiel, geschweige denn eine Chance aufs Weiterkommen.
"Ich habe den Jungs gesagt, dass wir auch trotz des 3:0 weiterspielen und konzentriert sein müssen und die Ruhe bewahren sollten", erklärte Dante nach dem Spiel. Offenbar hatte er bei seinen Kollegen kein Gehör gefunden.Denn sowohl beim 3:1, als auch und vor allem beim 3:2 ließ die VfL-Abwehr jegliche Konzentration der vorigen Spielzeit vermissen. Gents Treffer waren ein leichtsinniges Geschenk - nicht mehr und nicht weniger. "Wir waren fehlerhaft. Das darf man sich nicht erlauben", kritisierte Klaus Allofs zurecht.
VfL macht Gent unnötig Hoffnung
Unter dem Strich steht für Heckings Truppe ein wichtiger Auswärtserfolg, der für das Rückspiel mehr als nur der Grundstein zum Weiterkommen sein sollte. Dazu war Wolfsburg - trotz der Ausfälle von Benaglio und Naldo - über weite Strecken zu überlegen. Dazu war auch Gent über weite Strecken viel zu ungefährlich, vom Chaos in der belgischen Hintermannschaft ganz zu schweigen.
Wie viel Selbstvertrauen der Beginn einer kleinen Erfolgsserie dem VfL letztlich wirklich schenkt, wird sich zeigen. Fakt ist aber: Mit der Inkonsequenz weniger Momente raubte das so ambitionierte Wolfsburger Team seinem lange Zeit guten Auftritt viel Glanz - genauso wie Julian Draxlers Weltklasse-Momenten.
So haben Träsch, Knoche, Casteels und Co. dem Underdog wieder Hoffnung eingehaucht. Die "Büffel" werden zum Rückspiel einen noch größeren Glauben an sich selbst entwickeln, als es schon vor dem Hinspiel der Fall war. Das hat sich der VfL selbst zuzuschreiben.
"Wir müssen jetzt noch einmal 90 Minuten konzentriert sein, aber ich denke, dass wir das hinkriegen", lauteten Heckings Schlussworte. Man hätte es so viel einfacher haben können...
KAA Gent - VfL Wolfsburg: Daten zum Spiel