Immer zu Beginn des Jahres hat Christian Seifert seinen großen Auftritt. Dann lädt die Deutsche Fußball-Liga die Topvertreter der 36 Bundesligisten und des DFB sowie Politiker, Medien und weitere Prominente kurz vor der Rückrunde zu ihrem Neujahrsempfang - und die Anwesenden hören tatsächlich konzentriert zu, welche Botschaft ihnen der DFL-Vorsitzende mitgeben will.
Im Gegensatz zu den Vorjahren musste Seifert diesmal nicht über die Langeweile an der Tabellenspitze reden, die anhaltend fehlenden Erfolge deutscher Klubs im Europacup hingegen erwähnte er nicht zum ersten Mal. Doch den Schwerpunkt seiner Rede machte ein Thema aus, das man bislang nicht unbedingt zu den Kernthemen des Profifußballs zählte.
"Die wirklich große sportliche Herausforderung" liege im Nachwuchsbereich, erklärte Seifert: "Wir müssen ohne Wenn und Aber anerkennen: Wir haben massiven Nachholbedarf mit Blick auf die sportliche Ausbildung von Top-Talenten. Und da Top-Talente nicht geboren werden, sondern sich entwickeln, heißt das nichts anderes als: Nachholbedarf mit Blick auf die sportliche Ausbildung generell."
Deutlicher hätte man das wohl dringendste Problem im deutschen Fußball kaum ansprechen können: Aus dem Juniorenbereich kommt schon seit einigen Jahren fast nichts mehr nach. Die U19-EM und die U20-WM im vergangenen Jahr fanden ohne den DFB statt, die U17 schied bei der EM bereits in der Vorrunde aus. "Und je weiter wir bei den Jahrgängen dann runtergehen, umso deutlicher wird der Unterschied", sagt Joti Chatzialexiou, sportlicher Leiter aller DFB-Teams.
Kaum deutsche Nachwuchsspieler in der Bundesliga
Das zeigt sich auch bei den angehenden Profis. So bestand der Kader der deutschen U21 seit über einem Jahrzehnt weitgehend aus Bundesliga-Stammkräften. Aktuell finden sich gerade einmal vier Profis aus der ersten Liga in der Mannschaft von Stefan Kuntz, die nach der Niederlage gegen Belgien im November ebenfalls um die EM-Qualifikation bangen muss. Der geringe Anteil ist zwangsläufig, denn statistisch ist die Zahl der Einsatzzeiten für deutsche Talente seit Jahren auf aktuell nur noch drei Prozent gesunken.
Die letzte Medaille eines DFB-Juniorenauswahl liegt auch schon sechs Jahre zurück. Im WM-Jahr 2014 gewann die U19, unter anderem mit den heutigen Nationalspielern Joshua Kimmich und Niklas Süle, die Europameisterschaft.
Das Geburtsjahr 1995/96 ist aktuell der letzte richtig starke Jahrgang im deutschen Fußball, dahinter kommt mit Ausnahme von Kai Havertz (20 Jahre) lange nichts mehr. So ist zumindest das Potenzial der Nationalmannschaft für die nächsten Jahre gesichert. Nimmt man die verletzten Süle und Leroy Sane hinzu, finden sich im aktuellen Kader von Bundestrainer Joachim Löw 15 Spieler der Jahrgänge 94 bis 96, die bei der Heim-EM 2024 ihren Leistungshöhepunkt erreicht haben dürfen, hinzu kommen die dann auch erst 32 Jahre alten Torhüter Marc-Andre ter Stegen und Bernd Leno.
Deutscher Fußball droht im Mittelmaß zu versinken
Allerdings hat die missratene WM 2018 glücklicherweise bei DFB und DFL die Augen dafür geöffnet, dass man sich nicht mehr auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen kann, wenn man spätestens ab Mitte des neuen Jahrzehnts nicht den Anschluss an die Weltspitze verlieren will. So wie vor rund 20 Jahren, als der WM-Triumph 1990 und Franz Beckenbauers Aussage, man werde nun "auf Jahre unschlagbar" sein, die Sinne vernebelte und die Nachwuchsförderung schmählich vernachlässigt wurde. Die Folge: Deutschland scheiterte sowohl bei der WM 1998 als auch der EM 2000 mit einer der ältesten Mannschaften aller Teilnehmer (inklusive des 38 Jahre alten US-Legionärs Lothar Matthäus) frühzeitig.
Erst dadurch entstand der Impuls, mit der Einführung der Jugendinternate der Bundesligisten, optimierten Sichtungen und verbesserter Trainerausbildung, den Nachwuchs endlich gezielt und konsequent zu fördern. Es dauerte ein knappes Jahrzehnt, bis sich der Lohn dauerhaft einstellte: mit den EM-Titeln bei der U17 (2009), U19 (2008) und der U21 (2009), die mit sechs Spielern dann auch den Großteil der Weltmeistermannschaft von 2014 bildete.
Entsprechend groß ist nun die Aufgabe für den sportlich verantwortlichen DFB-Vorstand Oliver Bierhoff, der gemeinsam mit DFL-Boss Seifert den Masterplan "Projekt Zukunft - Für die Weltmeister von morgen" entwickelt hat. Seifert sprach beim Neujahrsempfang vom "wichtigsten sportlichen Projekt des deutschen Fußballs der nächsten zehn bis 15 Jahre".
Dementsprechend diente seine Rede dazu, Fans und Verantwortlichen die Augen zu öffnen: Ohne ein radikales Umschwenken in der Nachwuchsförderung droht der deutsche Fußball spätestens am Ende des neuen Jahrzehnts im Mittelmaß zu versinken.