EM

Mit der Leidenschaft von '98

Dimitri Payet erzielte schon zwei Treffer bei der EM
© getty

Dimitri Payet ist Frankreichs neue Hoffnung auf den EM-Titel im eigenen Land. Der 29-Jährige entfacht beim Gastgeber inbrünstige Nostalgie und hilft der Grande Nation in die Spur. Titelreif ist Frankreich noch nicht - man weiß aber, wie es geht.

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Ging es um die Aufstellung der Nationalmannschaft, wurden in Frankreich während der Vorrunde drei Namen besonders heftig diskutiert. Bei Paul Pogba und Antoine Griezmann stellte sich vor allem nach dem zweiten Spiel, als Didier Deschamps beide draußen ließ, die Frage: Spielen sie? Dimitri Payet war der Dritte im Bunde. Bei ihm fragte man jedoch nicht ob, sondern wo er spielt.

Groß waren die Augen, als er in Partie drei gegen die Schweiz dann plötzlich nicht in der Startelf stand. Rund um die Presseplätze war zu beobachten, wie sich viele französische Fans zum Nebenmann umdrehten und die Schultern fragend nach oben rissen, als im Stadion die Aufstellung auf der Leinwand erschien. Zumindest diejenigen taten das, die es noch nicht über soziale Netzwerke mitbekommen hatten.

Deschamps hielt lediglich an seinem Rotationsprinzip fest, das er in der gesamten Gruppenphase praktizierte. Frankreich jedoch war empört über den fehlenden Heilsbringer.

Mit der Leidenschaft von '98

Payet ist innerhalb einer Woche zum am wenigsten umstrittenen französischen Nationalspieler aufgestiegen. Mit zwei Toren in den ersten beiden Spielen befreite der Außenstürmer von West Ham United den Gastgeber vom riesigen Druck, der auf ihm lastete.

Gerade beim Siegtreffer im Eröffnungsspiel, als er in der 89. Minute fast das Dach des Stade de France wegkatapultierte, war es in Frankreich fast unmöglich, nicht an 1998 zu denken. Das Stadion hat den Ruf weg, atmosphärisch oft zu enttäuschen. Als Payet all seine Anspannung in den Winkel zimmerte, erlebte der Fußballtempel in Saint-Denis wohl so viel Leidenschaft wie seit dem 12. Juli vor 18 Jahren nicht mehr.

Die Inbrunst, die Ergriffenheit auf den Rängen war gigantisch. So viel Zusammengehörigkeit verspürte Frankreich im freudigen Sinne schon lange nicht.

Frankreichs Held: Payet statt Pogba

Ob es nun Platini, Deschamps, Zidane oder Henry waren: Frankreich braucht seine Helden. Der für diese EM designierte Kandidat war Paul Pogba, Payet hat ihm den Ruhm, aber auch die Bürde der großen Erwartungen abgenommen.

Der 29-Jährige träumte Anfang des Jahres noch nicht einmal davon, bei der Heim-EM im Kader zu stehen. Nach einer 0:1-Pleite gegen Albanien im Juni 2015 war Payet nicht mehr in die Nationalmannschaft berufen worden. Im März kam aber auch Deschamps zu dem Schluss, dass am zwölffachen Pflichtspieltorschützen aus England kein Weg vorbeiführt.

"Es war ein langer Weg für mich. Noch vor einigen Wochen hätte ich nie gedacht, dass ich hier dabei bin, geschweige denn auf dem Platz stehe. Ich habe hart arbeiten müssen und hatte Verletzungspech. Die Arbeit und all diese Mühen mussten einfach raus", beschrieb Payet zuletzt seine Freudentränen nach dem Matchwinner gegen Rumänien. Die Szene wurde im Fernsehen in Endlosschleife gezeigt. Sie waren ihm dankbar dafür, die Franzosen. "Merci Dimitri", sagte Deschamps am Ende des aufwühlenden Abends.

"Man traut mir große Dinge zu"

Payet gilt als Spätzünder. Obwohl er bereits 2010 im Nationalteam debütierte, hat er zuvor noch kein großes Turnier gespielt. Mit ein Grund dafür: In seiner Zeit beim AS St. Etienne kam es zu einem folgenschweren Eklat. 2010, beim Spiel gegen Toulouse, wurde Payet handgreiflich. Gegen zwei Mitspieler. Fortan trug er das Image des Problemprofis mit sich herum. Auch deswegen tauchte er bislang noch nicht auf der ganz großen europäischen Fußballbühne auf - bis jetzt.

Gerade deshalb nimmt er die hohe Erwartungshaltung gerne an: "Ich danke allen Leuten für die zweite Chance, die ich erhalten habe. Ich spüre aber keinen übergroßen Druck, das macht mich nicht nervös. Ich finde es schön, denn es zeigt, dass man mir vertraut und vor allem auch große Dinge zutraut. Das ist wichtig", so Payet nach dem abschließenden Gruppenspiel gegen die Schweiz.

"Besser so als verblendet"

Unter dem Strich steht Deschamps' Mannschaft mit sieben Punkten und einem ordentlichen Torverhältnis von 4:1 im Achtelfinale. Ganz so souverän wie es die Statistik vermuten lässt, waren die Auftritte bislang zwar nicht, jedoch findet sich im Teilnehmerfeld keine einzige Mannschaft, für die das gelten würde.

"Die Spiele haben gezeigt, dass es hier keine einfachen Gegner gibt. Lieber gewinnen wir so knapp und spät als dass wir nach einem 3:0 oder 4:0 verblendet sind", lautete Payets Fazit der Gruppe.

Besonders optimistisch stimmt ihn die Entwicklung innerhalb der Mannschaft: "Vom ersten Spiel gegen Rumänien über das zweite gegen Albanien bis hin zum dritten gegen die Schweiz hat man eine klare Evolution unseres Fußballs gesehen. Es wird immer besser."

Frankreich ist 2016 bereit

Frankreich auf heimischem Boden - das passt. Neben der WM 1998 gewann die Equipe Tricole auch die EM 1984 im eigenen Land. Für vergleichbare Heldentaten ist die Grande Nation 2016 wieder bereit.

Der Weg ins Finale wird weiter Nerven kosten und besondere Momente wie die aus dem Eröffnungsspiel erfordern. Doch Frankreich ist darin geübt. Gerade die erwachsene Generation wird sich an die schwierigen Spiele 1998 gegen Paraguay und Italien auf dem Weg zum Titel erinnern. An der Belastbarkeit dieses Landes wird es keinesfalls scheitern.

Dimitri Payet hat dieser Mission Leben eingehaucht, fast im Alleingang. "Ich will von der EM profitieren und mich zerreißen. Seit Turnierbeginn fühle ich mich richtig gut. Ich habe viel Selbstvertrauen und liefere hier gute Leistungen ab", befindet er. Das hat zwar noch nicht gereicht, um ganz Fußball-Europa restlos von den Zweifeln an der französischen Mannschaft zu befreien, aber Payet hat ja womöglich noch vier Spiele Zeit dazu.

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