Nach dem Spiel war Nadine Angerer wieder ganz sie selbst. Entspannt, gesprächig und gut gelaunt. "Mensch Celia, musst Du immer so laut sein, ich kann mich hier nicht konzentrieren!", blaffte sie lachend ihre Mannschaftskollegin an, die nebenan in der Mixed Zone Interviews gab. "Entschuldigung, jetzt habe ich den Faden verloren, wie war die Frage nochmal?"
Die Frage war, ob sie mit dem Auftritt ihrer Mannschaft gegen Nigeria zufrieden war. Angerer zog sich die Schirmmütze zu Recht und antwortete ehrlich: "Mit dem Ergebnis bin ich zufrieden, nur mit der Leistung sind wir alle nicht zufrieden. Was mich vor allem ärgert, ist, dass wir viel mehr können."Mit dem 1:0 Sieg im zweiten Gruppenspiel am Donnerstag ist die deutsche Nationalelf sicher für das WM-Viertelfinale qualifiziert. Aber tatsächlich war die Begegnung in Frankfurt nicht besonders ansehnlich.
Immer wieder landeten lange Bälle bei den nigerianischen Abwehrkräften, die hinten aggressiv und manchmal überhart dicht machten. Erst in der 52. Minute fiel das erlösende Tor durch Simone Laudehr.
"In Schweden geht es genauso zu"
Auch die koreanische Schiedsrichterin Sung Mi Cha trug mit einer enttäuschenden Leistung zum hektischen und zerfahrenen Spiel bei, indem sie viele nickelige Zweikämpfe laufen ließ. In den Augen der meisten deutschen Spielerinnen zu viele.
Doch auch darüber konnte Nadine Angerer sich nach dem Spiel nicht ernsthaft ärgern: "Ich würde die Aktionen von Nigeria unter internationaler Härte einordnen, da müssen wir halt dagegen halten. Ich habe ja ein Jahr in Schweden gespielt, da geht es genauso zu."
Angerers Abstecher ins Ausland begann 2008, als sie zum schwedischen Erstligisten Djurgården Damfotboll wechselte. Schon vor der WM 2007 hatte sie die Verhandlungsgespräche mit dem Klub geführt. Als ihr Marktwert nach den starken Leistungen im Turnier dann noch einmal enorm gestiegen war, verzichtete sie auf viel Geld und ging nach Schweden.
Sie wollte einfach die Erfahrung sammeln, im Ausland zu spielen. Außerdem ist die schwedische Liga ihrer Meinung nach eine der besten der Welt.
Problem: Harmoniebedürftigkeit
Ein Problem für "Natze" war in dieser Zeit allerdings die Verständigung mit ihren Mitspielerinnen: Nicht die Sprache, eher die Harmoniebedürftigkeit der Schwedinnen bereitete ihr manchmal Kopfzerbrechen. Einige Kolleginnen kamen mit Angerers sehr direkter Art nicht klar. Anfang 2009 kehrte die heute 32-Jährige schließlich zurück nach Deutschland. Seitdem ist die Torfrau die unumstrittene Nummer eins des 1.FFC Frankfurt.
Die Nummer eins im deutschen Team musste sie sich aber erst erarbeiten: Zwar debütierte sie schon am 27. August 1996 in der Nationalmannschaft, doch es blieb einer von wenigen Einsätzen, die Angerer in ihren ersten Jahren in der Nationalmannschaft hatte.
Immer wieder entschieden die Trainer sich für Silke Rottenberg, die ältere, erfahrenere Torfrau. Als die sich jedoch vor der WM 2007 einen Muskelfaserriss zuzog, schlug Angerers große Stunde: Die ganze WM über blieb sie ohne ein einziges Gegentor. Im Finale war sie einen Moment lang sogar größer als Marta, als sie einen Elfmeter des brasilianischen Weltstars hielt.
"Entweder die Beste - oder Du bist raus!"
Das Gruppenspiel gegen Nigeria nun war ihr 100. Länderspiel. Und eines ihrer schwersten. Schon vor dem Spiel wirkte die sonst so fröhliche Angerer extrem angespannt. Immer wieder gestikulierte sie während der 90 Minuten dann in Richtung ihrer Mitspielerinnen, forderte sie auf weiter aufzurücken und das Tempo hoch zu halten.
Bei jeder vergebenen Torchance ihrer Mannschaft hob sie flehend die Hände zum Himmel. Auf der Linie hatte sie selbst allerdings nur selten die Gelegenheit sich auszuzeichnen. Um ihre Konzentration bei solchen Spielen trotzdem zu halten, hat die gebürtige Fränkin eine eigene Taktik: "Ich rede viel mit meinen Abwehrspielerinnen und versuche, jeden Spielzug mitzugehen, damit ich im Spiel bleibe."
Und sie blieb im Spiel. Zweimal musste sie ernsthaft gegen die Nigerianerinnen eingreifen. Beide Male war sie zuverlässig zur Stelle.
Für viele ist Angerer auch deshalb die beste Torhüterin der Welt. So wie Tina Theune es ihr vorausgesagt hatte. "Entweder Du wirst die beste Torhüterin der Welt, oder Du bist raus!", drohte die ehemalige Bundestrainerin ihr einst, als sie (wieder einmal) einen Lehrgang verpasst hatte.
"Bei vielen Nationen ist der Torwart nicht viel wert"
Dabei hat gerade die gute Ausbildung, die sie hier in Deutschland erhalten hat, zum Gesamtprojekt "Welttorhüterin" beigetragen. Genau diese Art von Torhüterausbildung ist es, die vielen anderen Nationen noch fehlt, meint Angerer.
"Wir haben es in Deutschland auch lange verschlafen, junge Torwarttalente zu fördern. Wir haben es aber rechtzeitig erkannt und sind auf einem guten Weg. Mit Michael Fuchs haben wir einen hauptamtlichen Torwarttrainer, der ein super Konzept aufgezogen hat. Viele Nationen sind allerdings immer noch der Ansicht, dass der Torwart nicht so viel wert ist, er wird nicht wirklich beachtet. Daran muss man noch gezielt arbeiten, denn ein Torwart kann ein Spiel entscheiden."
Von vielen Medien wird Angerer mittlerweile in Anlehnung an den ehemaligen Nationaltorwart Oliver Kahn "Titanin" genannt. Sogar Eintracht Frankfurt-Legende Charly Körbel, der bei verschiedenen Veranstaltungen in Frankfurt selbst oft gegen Angerer gekickt hat, bestätigt diesen Vergleich: "Nadine Angerer ist auch so eine Art 'Besessene', die unglaublich motivieren kann", erzählt der Rekordspieler der Bundesliga im Gespräch mit den DB Schülerreportern.
Das Pendant zu Jens Lehmann
Angerer selbst mag diesen Vergleich jedoch nicht. Sie selbst sieht sich eher als weibliches Pendant zu Jens Lehmann. "Ich bin wie Jens eher der mitspielende Torwart. Oliver Kahn ist ein Beißer, ein Brecher. Das bin ich nicht."
Unbestreitbar hingegen ist ihre Meisterleistung 2007 in China: Die komplette WM über stand Angerer im Tor der deutschen Nationalmannschaft, die komplette WM über hielt sie alles, was vor ihren Kasten kam.Was dabei herauskam? Der Weltmeistertitel - und ein neuer Rekord. 622 WM-Minuten ohne Gegentor: Noch nie in der Geschichte des Fußballs gelang das einem anderen Torhüter. Erst im Eröffnungsspiel 2011 brach die Rekordserie, als die Kanadierin Christine Sinclair Angerer per Freistoß bezwang.
Schon längst aber hat die Halbitalienerin einen neuen Rekord im Auge. Kurz nach dem Eröffnungsspiel hat sie sich bei Twitter angemeldet: "Ich habe in der Mannschaft gewettet, dass ich bis zum Ende des Turniers 1000 Follower habe. Bisher sind es 300. Aber ich habe ja vor, noch vier Spiele zu spielen." Das letzte möglichst am 17. Juli. Der Tag des Finales.
Leoni Dowidat (15) begleitet als DB Schülerreporterin die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2011. Während der WM berichtet sie vor Ort von den Spielen aus Frankfurt.