"Sexuelle Gewalt": Ein irritierender Kuss - und seine Vorgeschichte

SID
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Was bleibt von der WM? Es gibt keine Kleinen mehr, der Frauenfußball ist weiter im Aufwind - nach dem Finale aber spricht die Welt vor allem von einem mindestens irritierenden Kuss.

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Ein Kuss der Freude unter Freunden oder ein inakzeptabler Übergriff? Jenni Hermoso fand darauf selbst keine eindeutige Antwort. Die 33-Jährige war gerade ein paar Minuten Fußball-Weltmeisterin, als Spaniens Verbandschef Luis Rubiales sie bei der Siegerehrung herzlich umarmte, zweimal auf die Wange küsste - und dann mit Nachdruck auf den Mund. Vor den Augen der Welt, die am Ende der laut FIFA-Präsident Gianni Infantino besten Frauen-WM der Geschichte nicht nur über das hochspannende Finale debattierte.

"Das hat mir nicht gefallen", sagte Hermoso in einem Instagram-Livestream nach dem 1:0-Krimi über England. Lachend zwar, doch unbeschwert wirkte sie nicht und fügte hinzu: "Was hätte ich tun sollen?" Später betonte die 33-Jährige in einer vom spanischen Verband RFEF verbreiteten Erklärung, es habe sich um eine "natürliche Geste der Zuneigung" gehandelt. Und überhaupt: "Der Präsident und ich haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander."

Der Aufschrei allerdings blieb davon unberührt. Spaniens Gleichstellungsministerin Irene Montero etwa wurde bei X, dem ehemaligen Twitter, deutlich: "Das ist eine Form der sexuellen Gewalt." Man dürfe "nicht davon ausgehen, dass Küssen ohne Zustimmung etwas ist, das 'passiert'. Nur ein Ja ist ein Ja."

Der spanische Sportminister Miguel Iceta sagte am Montag: "Es ist inakzeptabel, eine Spielerin auf den Mund zu küssen. Das Erste, was er tun muss, ist, sich zu erklären und zu entschuldigen. Daran führt kein Weg vorbei."

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Andries Jonker: "Unfassbar", "inakzeptabel" und "unerhört"

Die Tageszeitung El Pais kommentierte: "Wir schreiben das Jahr 2023, diese Gesten sind nicht zu rechtfertigen." Ein solcher Kuss auf den Mund sei "eine Aggression". Der niederländische Nationaltrainer Andries Jonker, bei seinen Spielerinnen auch wegen seines respektvollen Umgangs geschätzt, brandmarkte Rubiales' Verhalten als "unfassbar", "inakzeptabel" und "unerhört".

Und Rubiales? Der 45 Jahre alte Ex-Profi, seit 2018 Verbandsboss und aufgrund von Skandalen und Skandälchen keineswegs wie ein Heiliger beleumundet, trat am Montag den Canossagang an. Er habe keine "andere Wahl", als sich zu entschuldigen und "daraus zu lernen". Wenn er den Verband vertrete, müsse er vorsichtiger sein, so der Funktionär. Er hielt allerdings an seinem Standpunkt fest, dass die Aufregung "idiotisch" sei.

Sein Kuss sei "ohne kranke Intention in einem Moment maximaler Überschwänglichkeit passiert". Er habe es als normal und natürlich angesehen, "aber außerhalb hat es für Aufregung gesorgt".

Doch der Kuss von Sydney wirft Fragen auf, die über das reine Berühren von Lippenpaaren hinausgehen. Etwa: Warum ist der Fußball auch im Jahr 2023 noch eine solche Testosteron-Veranstaltung, in der Gleichberechtigung bisweilen nur eine politisch korrekte Worthülse zu sein scheint?

Schließlich hat der Erfolg von Spanien eine Vorgeschichte, die den Titelgewinn Down Under noch unwahrscheinlicher wirken lässt. 15 Akteurinnen hatten im vergangenen Herbst gegen den Führungsstil von Jorge Vilda protestiert.

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Spaniens Verband und die Fußballerinnen: Die Vorgeschichte

In einem Brief an die Verbandsspitze machten sie unter anderem Andeutungen, dass der Nationaltrainer ein kontrollierendes, ängstliches Umfeld mit Machtungleichgewicht, Bevorzugung, Einschüchterung und individuellem Stress geschaffen hatte. Dies habe dazu geführt, dass mehrere Spielerinnen - darunter Spaniens Rekordtorschützin Hermoso - das Training unter Tränen verließen.

Vilda (42) wurde aber vom Verband und insbesondere von Präsident Rubiales gestützt. Nur drei der 15 Rebellinnen kehrten zurück in den Kader. Hermoso und auch Weltfußballerin Alexia Putellas unterzeichneten den Brief zwar nicht, sie unterstützten ihn aber, indem sie ihn auf ihren eigenen Social-Media-Seiten veröffentlichten.

Putellas forderte nach dem Titelgewinn nun eine Aufarbeitung. "Die FIFA muss das zur Kenntnis nehmen", sagte die Starspielerin des FC Barcelona der Zeitung Marca. Damit meinte sie wohlgemerkt nicht nur das Geschehen im spanischen Frauenfußball. "Viele Länder", klagte sie, hätten "viel Zeit mit Disputen verbracht" im Umfeld der WM. Mal ging es um Prämien, mal um Gleichstellungsfragen auf anderer Ebene.

Der Frauenfußball mag in Australien und Neuseeland ein neues Level erreicht haben - mehr Zuschauer in den Stadien denn je, spannende Spiele, Favoritenstürze, 525 Millionen Euro Gewinn - doch Rückständigkeit in vielen gesellschaftlich relevanten Bereichen ist geblieben.

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