Priwjet is Moskwi, hallo aus Moskau,
ich bin jetzt seit über drei Monaten in Russland. Zeit also für ein erstes richtiges Fazit - sportlich wie privat. Schon jetzt kann ich mit reinem Gewissen behaupten: Ich fühle mich bei Dynamo pudelwohl.
Über die tollen Trainingsbedingungen und das professionelle Umfeld habe ich ja schon das letzte Mal ausführlich berichtet. Das passt perfekt. Was ehrlicherweise noch nicht so passt, ist die Konstanz unserer Mannschaft.
Jojo-Effekt auf Russisch
Besser gesagt: die nicht vorhandene Konstanz. Jojo-Effekt auf Russisch. Mal spielen wir richtig guten Fußball und gewinnen souverän, dann verlieren wir wieder völlig unnötig. Wir holen beim Spitzenreiter St. Petersburg einen Punkt - und mühen uns gegen Mannschaften, die deutlich hinter uns stehen.
Das zeigt mir zum einen, dass wir das Potenzial haben, im oberen Drittel mitzuspielen. Zum anderen sieht man daran aber auch, dass wir uns als Mannschaft noch weiterentwickeln müssen.
Wir dürfen nach erfolgreichen Partien keinen Millimeter nachlassen - und wir müssen lernen, noch kompakter zu stehen. Soll heißen: An guten Tagen können wir jeden Gegner schlagen. An schlechten leider auch gegen jeden verlieren. Aber das ist kein Grund zur Panik.
DFB-Team: Ein Kampf gegen Windmühlen
Ich bin ja nicht mit dem Ziel angetreten, in den ersten Monaten hier alles in Grund und Boden zu spielen. Wie heißt es so schön? Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Das Ziel von Dynamo ist es, mittelfristig etwas aufzubauen. Da sind wir dabei.
Und was man nicht vergessen darf: Wir können auch in dieser Saison noch einiges erreichen. Die Europa-League-Plätze können wir schon noch ohne Fernglas erkennen, und im Pokal stehen wir im Viertelfinale.
Das sind die Ziele, auf die ich mich sportlich derzeit voll konzentriere. Zumal es ja leider tatsächlich so aussieht, als wäre das Thema Nationalmannschaft für mich unter Joachim Löw keines mehr. Wenn er mich in den vergangenen Monaten trotz meiner Tore nicht nominiert hat, wird er das wohl auch in Zukunft nicht tun.
Etwas anderes zu glauben, wäre weltfremd. Ich sage ganz ehrlich, dass ich das sehr bedauere - weil es mein Traum bleibt, noch einmal für mein Land zu spielen. Und deshalb werde ich weiter kämpfen, auch wenn es vielleicht ein Kampf gegen die Windmühlen ist. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich erst aufgebe, wenn das Spiel tatsächlich zu Ende ist.
Begründung überrascht mich
Aber jetzt muss ich diese Entscheidung akzeptieren, so ist das im Sport. Da kann man nicht immer nur auf der Sonnenseite stehen. Was mich aber schon sehr überrascht, ist die Begründung für meine Nicht-Nominierung.
Joachim Löw betont immer, dass ich nicht ins System passen würde. Das ist eine Aussage, die mich etwas ratlos macht. Wenn man meine Karriere verfolgt, sieht man, dass ich in den unterschiedlichsten Systemen erfolgreich war und immer meine Tore gemacht habe. Ich denke, dass dies nicht das schlechteste Argument ist.
Aber es ist, wie es ist. Ich werde einfach weiter kämpfen und hoffen, irgendwann doch noch mal eine neue Chance zu bekommen.
Hatte ich eigentlich vor gefühlten 399 Zeilen nicht angekündigt, nicht nur über Sport schreiben zu wollen? Ich denke, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für einen abrupten Themenwechsel wäre.
Taxifahrt schlimmer als Achterbahn
Lasst uns also über mein neues Leben in Moskau sprechen. Ich bin mittlerweile zu dem Schluss gekommen: Das ist hier mal richtig gefährlich. Wenn man in ein Taxi steigt.
Habe ich neulich mal versucht. Dagegen kann jede Achterbahn dieser Welt einpacken. Der Kerl ist gefahren, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.
Vielleicht hat er seinen Führerschein auf dem Hockenheimring gemacht, keine Ahnung. Ich habe mich jedenfalls völlig verzweifelt am Griff festgeklammert, die Augen geschlossen und auf ein Wunder gehofft. Und es geschah. Ich kam heil an.
Wer jetzt allerdings glaubt, dass ich noch mit vielen Anekdoten dieser Art dienen kann - sorry. Das zweitspektakulärste Erlebnis war, einen englischsprachigen Kindergarten für meine Kinder zu suchen. Hört sich einfach an, ist aber ziemlich kompliziert. Doch am Ende haben wir gesiegt.
Klischees in die Tonne kloppen
Und jetzt noch ein paar Fakten zum Thema: Klischees in die Tonne kloppen. Wir sind bisher auf offener Straße weder von einem Bären angefallen noch von einem sibirischen Tiger verfolgt worden. Das letzte Mal haben wir wilde Tiere gesehen, als wir in meiner Heimatstadt Stuttgart im Zoo waren.
Aus den Wasserhähnen kommt seltsamerweise kein Wodka. Wir haben noch kein einziges Auswärtsspiel im tiefsten Sibirien gehabt, zu dem die Anreise fünf Tage gedauert hätte - und wir uns dann bei minus 40 Grad mit dem Schneepflug ins Stadion hätten durchkämpfen müssen.
Und wenn ich Schweizer Schokolade, italienische Pasta oder deutschen Joghurt will, gehe ich in den Supermarkt um die Ecke.
Was ich damit sagen will: Hier ist das Leben nicht ganz so exotisch, wie es sich der eine oder andere vielleicht vorstellt.
Moskau ist eine ganz normale Weltstadt. Meine Familie und ich fühlen uns jedenfalls wohl. Und das ist ja das Wichtigste.
Bis bald.
Euer Kevin
Kevin Kuranyi, geboren am 2. März 1982 in Rio de Janeiro, gehört zu den besten Stürmern Deutschlands. Von 2001 bis 2005 spielte er als Profi für den VfB Stuttgart, danach wechselte er zum FC Schalke 04. Seit Sommer 2010 trägt Kuranyi nun das Trikot von Dynamo Moskau. Für die Nationalmannschaft war er bislang 52 Mal im Einsatz. Mehr Informationen über Kevin Kuranyi gibt es unter www.kevin-kuranyi.de.
Kevin Kuranyi im Steckbrief