WM

"Diese Mannschaft ist tot"

Von SPOX
Großes Drama 1986: Frankreichs Keeper Joel Bats hat soeben einen Strafstoß von Zico pariert
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Weltmeisterschafts-Finale 1998, Brasilien - Frankreich 0:3

Zum ersten Mal bei einem großen Turnier treffen sich beide Mannschaft nicht auf neutralem Boden. Fußballspieler sind längst auch Pop-Ikonen und veritable Werbeträger in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens. Brasilien hat Ronaldo dabei, der vom Wunderkind zum besten Spieler der Welt wurde. Vier Jahre zuvor war er beim Triumph in den USA nur Ergänzungsspieler, jetzt liegen die Hoffnungen Brasiliens auf seinen Schultern.

Aber Ronaldo ist angeschlagen und muss am Finaltag ins Krankenhaus eingeliefert werden. Bis heute sind die Umstände und die Art seiner Verletzung oder Krankheit nicht völlig geklärt. Von Muskelkrämpfen und einem epileptischen Anfall ist die Rede, einige Spieler wollen Schaum vor dem Mund gesehen haben. Bis dahin hatte er vier Tore erzielt, für die Mannschaft und Trainer Mario Zagallo war er kaum zu ersetzen. Also spielte er.

Eine Stunde vor Anpfiff rollt ein Taxi vor das Stade de France. Darin: Ronaldo, der prominenteste Fußballspieler seiner Zeit. "Ronaldo war weiß wie ein Stück Papier, trug Shorts, Tennis-Schuhe ohne Socken und eine kleine Tasche unterm Arm. Er sagte: ‚Ich werde spielen, Kahlkopf.' Er nannte mich immer Kahlkopf - ich ihn übrigens auch", erinnert sich Brasiliens Pressechef Ricardo Seyton später.

Auf dem Spielberichtsbogen steht hinter Ronaldos Name "n.a.", not available. Und plötzlich steht er in der Kabine. Dort machen sich die Spieler warm, jonglieren ein bisschen mit dem Ball, andere hören Musik. "Als sie Ronaldo sahen, war es wie ein Donner an einem sonnigen Tag. Alle hörten auf zu spielen. Es herrschte Stille", so Seyton weiter.

Zico war damals technischer Direktor und mit in der Kabine, als Ronaldo von sich aus sagte, dass er spielen wolle. Mannschaftsarzt Lidio Toledo, der Ronaldo nur wenige Stunden zuvor ins Krankenhaus überführt hatte, fragte noch einmal nach. Trainer Zagallo nahm Edmundo von der FIFA-Liste und setzte Ronaldo drauf. Zico soll den Arzt am Kragen gepackt und gedroht haben: "Wenn dem Jungen etwas passiert, bringe ich dich eigenhändig um."

Lange nach dem Finale gab es zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die die Hintergründe der ominösen Stunden ans Licht bringen sollten. Ergebnislos. Es halten sich zwei Varianten: Ronaldo bestritt alle Spiele nur dank starker Medikamente. Seine Knieschmerzen machten die meisten Trainingseinheiten unmöglich, weshalb er sich nur zu den Spielen fitspritzen ließ. Die Nebenwirkungen dieser Medikamente sollen dann die Krämpfe ausgelöst haben.

Die andere Theorie besagt, dass Ronaldo auf keinen Fall einsatzfähig gewesen sein soll. Die Weltmeisterschaft war aber wie keine zuvor auch eine Schlacht der Sportartikelhersteller und Ronaldo das beste Pferd im Stall des brasilianischen Ausrüsters. Da Gegner Frankreich in den Trikots des größten Kontrahenten auflief, sei angeblich Druck auf den Verband und den Spieler ausgeübt worden...

Frankreich dagegen war nicht so sehr auf einen Spieler fixiert. Nach dem Desaster der verpassten WM vier Jahre zuvor griff nun das umgekrempelte Ausbildungskonzept voll. Junge Hoffnungsträger wie Patrick Vieira, Thierry Henry, Robert Pires oder David Trezeguet komplettierten den Stamm der erfahreneren wie Laurent Blanc, Lilian Thuram, Christian Karembeu oder Zinedine Zidane.

Der galt als heimlicher Star, flog aber gleich im ersten Spiel gegen Saudi-Arabien nach einer Tätlichkeit vom Platz. Eine von zwölf Roten Karten in seiner Karriere - die erste übrigens erhielt er nach einem Faustschlag gegen den Karlsruher Thorsten Fink während eines UI-Cup-Spiels 1995. Erst im Viertelfinale gegen Italien durfte Zizou wieder mitwirken. Und dann natürlich auch im Finale.

Die Geschichte des Spiels ist schnell erzählt: Brasilien hatte mit einem nicht fitten Ronaldo keine Kraft, sich der französischen Attacken zu erwehren. Die Equipe Tricolor spielte nicht den schönsten Fußball, war aber effektiv und hatte in den entscheidenden Phasen auch das nötige Glück.

Zidane, nicht gerade als Kopfballspezialist unterwegs, köpfte nach einer Ecke zweimal ein, der dritte Treffer von Emmanuel Petit in der 90. Minute ist dann nur noch der Startschuss für Feierlichkeiten, wie sie Frankreich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Am Arc de Triomphe malen grelle Laserblitze das Konterfei von Zidane in den Nachthimmel, das Land ist einige Tage im Ausnahmezustand. Frankreich ist zum ersten Mal Weltmeister.

Das Roberto-Carlos-Special

Knapp ein Jahr davor gab es im Land des WM-Gastgebers das "Tournoi de France", eine Art Mini-Confed-Cup, das zur Vorbereitung auf das Endturnier veranstaltet wurde.

In Lyon fand das Eröffnungsspiel statt, Frankreich gegen Brasilien. Das Stade de Gerland sollte einem Testlauf unterzogen, der WM-Ball "Tricolor" getestet werden. Und wer hätte dies besser vermocht, als zwei der besten Mannschaften der Welt? Und vor allen Dingen: Roberto Carlos.

Brasiliens Linksverteidiger hielt zu der Zeit den inoffiziellen Weltrekord für den härtesten Schuss im Profifußball, 202 km/h wurden für ihn gemessen. Nach 21 Minuten gibt es einen eher belanglosen Freistoß für die Gäste, rund 35 Meter von Fabian Barthez' Tor entfernt. Trotzdem legt sich Roberto Carlos den Ball so hin und geht die Schritte zum Anlauf zurück, als würde er gleich direkt draufzimmern.

Zur Sicherheit verlangt Barthez nach einem Upgrade seiner Mauer, aus drei werden vier Spieler, die sich zwischen Tor und Ball postieren. Carlos geht zehn, zwölf Schritte zurück, er steht jetzt im Anstoßkreis. Mit Trippelschritten läuft er zum Ball, nimmt Fahrt auf, die Schritte werden größer. Das Standbein setzt er leicht hinter dem Ball versetzt, der Körperschwerpunkt ist nicht wie im Lehrbuch beschrieben über, sondern hinter dem Ball. Das linke Bein schwingt kraftvoll nach hinten.

Carlos trifft den Ball halb mit dem Vollspann, halb mit dem linken Außenspann, hüpft in der Nachbewegung anhand des ungemeinen Schwungs der Ausführung in die Luft. Der Ball steigt leicht an, beschreibt in der vertikalen aber eine eher flache Kurve und fällt fünf Meter vor dem Tor wie ein Stein nach unten.

Was sich aus Sicht des Schützen aber abspielt, ist einzigartig. Der Ball fliegt vermeintlich weit rechts neben das Tor, nur um dann plötzlich eine starke Kurve nach links zu machen. Barthez im Tor steht regungslos da, als der Ball an den rechten Innenpfosten knallt und von da ins Tor.

Das Tor als Sensation beschäftigt seither die Physiker in aller Welt. Es geht um Verwirbelungen, Luftwiderstände, Achsenbeschleunigungen, Normtabellen. Als sicher gilt, dass der Ball an die 150 km/h Tempo aufnehmen konnte und dass es Carlos gelungen war, dem Spielgerät eine Beschleunigung nach vorne und um die eigene Achse zu geben. Daraus entstand die spiralförmige Flugbahn.

Kopiert wurde diese in der Zeit danach oft, zumal sich die Beschaffenheit der Bälle immer wieder veränderte und es heute selbst in den unteren Ligen möglich ist, so genannten Flatterbälle aufs Tor loszulassen. Erreicht wurde der Kunstschuss aber nie.

Die WM-Qualifikation im Überblick