Eine schöne alte Tradition aus den früheren Tagen des Fußballs lässt Julio Cesar beim wichtigsten Turnier der Brasilianer seit über einem halben Jahrhundert wieder aufleben: Als die Selecao am Montag die Rückennummern ihrer 23 Spieler bekanntgab, überraschte Brasiliens Nummer eins mit der Wahl der Nummer zwölf.
Cesar hat vor vier Jahren in Südafrika die Eins auf dem Rücke getragen. Brasilien schied im Viertelfinale nach einem schwachen Turnier gegen die Niederlande aus. Cesar unterlief ein schwerer Fehler, auch an ihm wurde das schmerzhafte Ausscheiden festgemacht. Und nicht wenige bekamen damals die schiere Panik mit Blick auf die Heim-WM, die nun in einer Woche angepfiffen wird.
Julio Cesar stimmte damals nicht mit ein in den Chor der Pessimisten, aber diese eine Kleinigkeit, die wollte er für das letzte große Turnier seiner Karriere dann doch noch ändern. Also überließ er seinem Stellvertreter Jefferson aus Aberglauben generös die Nummer eins und erwählte selbst jene Nummer, die in den 70er und 80er Jahren stets den Ersatzkeepern zugeteilt wurde.
Scolari mit dem einen Auftrag
Julio Cesar braucht derlei Statussymbolik nicht mehr. Der Torhüter hat 79 Länderspiele auf dem Buckel, er hütet seit zehn Jahren das Tor der Selecao, seit dem Rücktritt von Dida nach der WM 2006 als Stammkraft. Kein anderer Spieler im Kader kann auf eine derart lange Karriere in Gelb und Blau zurückblicken, Cesar ist so etwas wie die Mutter der Kompanie und einer der ersten Ansprechpartner für Trainer Luiz Felipe Scolari.
Der wurde im Spätherbst 2012 zurück auf die Kommandobrücke geholt, nachdem die Kritik am Bastler und Tüftler Mano Menezes immer lauter wurde und der am Ende unter anderem über die Tatsache stolperte, dass er mehr als 70 Spieler in nur zwei Jahren Amtszeit getestet hatte.
Menezes habe das Ziel aus den Augen verloren, sagten die Kritiker und späteren Revolutionäre. Dabei hatte Menezes die WM im eigenen Land natürlich fest im Blick - aber eben auch die Zeit danach. Und das vergessen einige in Brasilien.
Scolari hat von Verbandschef Jose Maria Marin den einen klaren Auftrag bekommen, in diesem Jahr den WM-Titel zu holen. Fünf Mal hat Brasilien den Pokal schon errungen, auf drei verschiedenen Kontinenten. Aber neben Spanien ist die Selecao der einzige Titelträger, der die Weltmeisterschaft noch nicht im eigenen Land gewinnen konnte.
Der Hexacampeao, der sechste Titel wäre mehr als nur das halbe Dutzend. Er würde auch auf einen Schlag die bösen Geister von Maracana und der Schmach gegen Uruguay von 1950 besänftigen.
Umbruch in der Defensive
Die komplette Konzentration in einem ohnehin schon unruhigen Land mit krassen gesellschaftlichen Interessenfeldern auf ein Thema zu lenken, ist schwer genug. "Wir können diese Turnier nicht spielen und denken, der zweite Platz wäre ausreichend", sagt Scolari.
Selbst für einen der Großen des Weltfußballs ist dieses Turnier eine ultimative Herausforderung. Nicht umsonst hat er nur einen Vertrag bis zum Ende der WM unterschrieben. Danach verlässt er das Schlachtfeld wieder. Aber was passiert dann in der Zeit danach mit der Selecao?
Den meisten Fans im Land sind die Sinne vernebelt, es zählt das erste Spiel gegen Kroatien. Da soll der Grundstein gelegt werden und eine Welle der Euphorie entfacht, die die Mannschaft allen Problemen zum Trotz bis zum Titel tragen soll.
An die Zeit nach dem Ende denkt kaum einer. Sieht man sich aber die einzelnen Mannschaftsteile an, steht Brasilien in naher Zukunft vor einem einschneidenden Umbruch.
Sieben Ü-30-Spieler
Die Torhüter Ceasr (34), Jefferson (31) und Victor (31) gehören weder der absoluten Weltklasse an, noch dürften sie in vier Jahren beim Weltturnier in Russland noch eine tragende Rolle spielen. Für die Abwehr hat Scolari acht Spieler nominiert. Der Jüngste ist Marcelo von Real Madrid, momentan 26 Jahre jung. Aber sonst: Dani Alves (31), Dante (30), David Luiz (27), Henrique (27), Maicon (32), Maxwell (32), Thiago Silva (29).
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich das Karriereende gleich mehrere Akteure in der Selecao nach der Heim-WM vorzustellen: In vier Jahren in Russland sind aus ihnen 31- bis 36-Jährige geworden. So jung und aufstrebend Scolaris Auswahl im Mittelfeld und im Angriff aufgestellt ist, so lückenhaft wird die Auswahl im Defensivbereich.
Manchmal sind es nur Kleinigkeiten wie der dritte Torhüter. Der spielt selbst bei einer vierwöchigen WM so gut wie nie. Deshalb nehmen viele Nationaltrainer auch gerne neben zwei etablierten Kandidaten einen jüngeren in den Kader. Um Turnierluft zu schnuppern, als Vorgriff auf die Zukunft. Scolari hat für Gabriel und Neto, die beide noch im Kader der Olympia-Auswahl von 2012 standen, keine Verwendung.
Das mag in erster Linie sportliche Gründe haben, ist aber auch ein klares Signal vom Nationaltrainer an einen 25- und einen 21-Jährigen: Rein gar nichts wird bei der Mission Titelgewinn dem Zufall überlassen.
Prominente "Opfer"
Scolari verzichtet auf jegliches Risiko und vertraut im wahrsten Sinne des Wortes auf das Altbewährte. Dass er den bald 33-jährigen Maicon, der davor zwei Jahre nicht mehr im Dress der Selecao aufgelaufen war, vor einigen Monaten wieder berief und nun auch in den Kader bestellte, einen Spieler wie Rafael von Manchester United aber nicht, spricht für sich.
Marquinhos, der als Innenverteidiger bei Paris St.-Germain 32 Saisonspiele (fünf Tore) in der Liga und acht (drei Tore) in der Champions League absolviert hat, ist ein weiteres prominentes "Opfer".
Der 20-Jährige, der im Klub an der Seite von Kapitän Thiago Silva und Linksverteidiger Maxwell spielt und einen Mini-PSG-Block bilden könnte, wurde verdrängt von Henrique. Der hat bis zu seinem Wechsel zum SSC Neapel im Winter die Jahre davor in Brasilien gespielt, bei SE Palmeiras. Also nicht zwingend auf internationalem Spitzenniveau.
Großer Einschnitt steht an
Brasiliens Nationalmannschaft denkt im Zyklus von vier Jahren, also von einer Weltmeisterschaft zur nächsten. Die Copa America wird ab und an im Vorbeigehen absolviert, manchmal auch nur mit einer besseren B-Mannschaft. Was zählt, sind die globalen Endturniere. Insofern bleibt bis zu den nächsten beiden Großereignissen.
Dass sich die Selecao innerhalb kürzester Zeit auch wieder neu aufstellen kann, hat sie schon oft bewiesen. So sind im aktuellen Kader nur noch fünf der 23 Spieler von Südafrika übrig geblieben. Alle anderen wurden ausgetauscht. Das Reservoir an talentierten Akteuren ist so groß, dass der Nachschub förmlich nie versiegt.
Der Einschnitt nach diesem Turnier wird aber so ziemlich heftig werden. So richtig darauf vorbereitet ist die Selecao noch nicht. Dafür sind die kommenden Wochen einfach zu wichtig. Es soll aber auch ein Leben nach der Weltmeisterschaft geben.
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