Der taktische Kniff der WM war die totale Verengung des defensiven Zwischenraums. Auch Klubmannschaften konzentrieren sich für gewöhnlich darauf, den Raum zwischen Abwehr- und Mittelfeldlinie eng zu halten, weil jeglicher Ballbesitz des Gegners in dieser Zone gefährlich werden kann.
Während des laufenden Turniers trieben es einige Teams jedoch auf die Spitze und opferten sehr viel Raum vor dem Mittelfeld sowie hinter der Abwehr, um die angesprochene Zone bestmöglich zu verteidigen.
Aus diesem Grund sahen wir wenige Mannschaften, die ein griffiges Angriffspressing aufziehen konnten, denn die vorne positionierten Spieler waren im Pressing meist auf sich gestellt, während sich der Rest darum kümmerte, hinten kompakt zu stehen.
Argentinien und Frankreich sind zwei Nationen, die diese Art des Verteidigens bis jetzt ausnutzen, indem sie recht weiträumige Angriffe entweder über die Mitte oder unter Einbeziehung der Flügelläufer initiieren. Insgesamt stieg die Zahl an Torschüssen im Vergleich zu 2018 wieder, obwohl sich Nationen so auf Kompaktheit konzentrieren.
WM 2022: Stabilität und Kompaktheit stehen im Fokus
Beim Turnier vor viereinhalb Jahren gab es in den 13 K.o.-Partien im Schnitt 7,7 Torschüsse innerhalb der regulären Spielzeit. Aktuell sind es nach dem ersten Halbfinale 9,2 Torschüsse pro K.o.-Spiel. Diese Diskrepanz bliebe übrigens auch, würde man in so mancher Partie die abnormal lange Nachspielzeit abziehen.
In der Regel unterstreichen Weltmeisterschaften gewisse Trends, die sich zuvor im Klubfußball abzeichneten und durch die Größe des Turniers noch einen Schub erfahren. 2006 etwa setzte sich die Doppelsechs und der symmetrische Systemfußball durch. 2010 war der Zenit der Barca-Schule erreicht. In den vergangenen beiden Turnieren wurden Stabilität und mannorientiertes Spiel in unterschiedlicher Färbung zusehends dominant.
Die WM in Katar ist jedoch ein wenig anders. Der dezidierte Stabilitätsfokus vieler Mannschaften ist keineswegs ein Trend, den wir seit geraumer Zeit im Klubfußball beobachten können. Natürlich gibt es genügend Vereinsmannschaften, die vor allem stabilitätsorientierten Fußball spielen, aber das ist häufig der eigenen Stärke und einer perzipierten Außenseiterrolle geschuldet. Bei der laufenden WM werden Stabilität und räumliche Kompaktheit deshalb so groß geschrieben, weil die Nationen noch weniger Zeit als sonst zum Einspielen hatten.
WM 2022 in Katar ist geprägt vom Faktor Glück
Nationalteams leiden ohnehin schon darunter, dass ihnen vor den großen Turnieren wenige Möglichkeiten bleiben, sich entsprechend vorzubereiten. Aber die paar Wochen, die normalerweise bleiben, werden insbesondere von den kreativen Mannschaften mit guten Spielgestaltern und Säulenspielern mit überlegener Auffassungsgabe genutzt, um ein funktionierendes System auf den Platz zu bringen. Paradebeispiel dafür war die DFB-Auswahl 2014, als eben die genannten Faktoren im Team rund um Mesut Özil, Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm zusammenkamen.
Der Erfolg der Kleinen bei dieser WM hängt auch damit zusammen, dass die eigentlich überlegenen Nationen nicht ihre volle Klasse ausspielen können. Der über das fast komplette Teilnehmerfeld verbreitete Stabilitätsfokus marginalisiert zu einem gewissen Grad die Unterschiede im individuellen Bereich.
Darüber hinaus ist die aktuelle Weltmeisterschaft geprägt vom Faktor Glück. Angesichts der wenigen Spiele gleichen sich Glück und Pech nicht ohne Weiteres aus, wie beispielsweise das deutsche Team in puncto Abschlusspech lernen musste.
Das Gesicht der WM aus taktischer Sicht ist Lionel Scaloni
Das Grundziel jeder Mannschaft ist es zunächst einmal, sich Torgelegenheiten zu erspielen. Ein Vorteil in dieser Statistik erhöht im Normalfall die Chance auf einen Sieg, aber der Faktor Glück spielt selbstverständlich eine Rolle. Deutlich wird dies am Beispiel von Saudi-Arabien. Der Underdog gewann mit 2:1 gegen Argentinien, obwohl sich die Saudis nur drei Schüsse erspielten, der Südamerika-Vertreter derweil 15.
Auch hinsichtlich der Torwahrscheinlichkeit war Saudi-Arabien deutlich unterlegen - mit einem Wert von 0,15 erwartbaren Toren (Expected Goals) zu 2,26 für Argentinien. Im zweiten Gruppenspiel schlug das Pendel in die andere Richtung um. Saudi-Arabien hatte 16 Schüsse produziert bei einem Wert von 1,73 erwartbaren Toren, Polen nur neun Schüsse mit einem Wert von 1,56. Das Endergebnis lautete jedoch 2:0 für Polen.
Das Gesicht der WM aus taktischer Sicht ist Lionel Scaloni. Der 44-jährige Argentinier ist gewiss nicht bekannt als Taktikgenie, wobei die Kürze seiner Karriere ihm auch noch keine große Möglichkeit gegeben hat, sich einen bestimmten Ruf zu erarbeiten. Was Scaloni aber besser gelingt als vielen Trainerkollegen im Turnier, ist die Anpassung des eigenen Systems an den jeweiligen Gegner.
WM 2022: Scaloni kompensiert Messis Laufaufwand
Damit münzt er eine Schwäche Argentiniens in eine Stärke um, denn die Albiceleste verfügt ohnehin nicht über einen dominanten Kader, der jedem Spiel seinen Stempel aufdrückt. Dafür fehlt dem Team athletische Überlegenheit ebenso wie spielgestalterische Exzellenz. Nicht ganz grundlos sind die besten argentinischen Mittelfeldakteure der vergangenen Jahre vornehmlich Balancespieler wie Giovani Lo Celso, der in Katar verletzungsbedingt nicht dabei ist, und Raumfüller wie Rodrigo de Paul.
Scaloni hat nicht nur die Grundformation Argentiniens bereits mehrmals vor Spielen angepasst und entsprechend Schwachpunkte des Gegners ausgenutzt, sondern auch jedes Mal einen Weg gefunden, den geringen Laufaufwand von Lionel Messi zu kompensieren. Auch das ist ein Pluspunkt von Scaloni, denn andere Teams leiden viel mehr darunter, dass ein Altstar vielleicht nicht mehr so viele Meter geht und das System dadurch ins Wanken bringt.
Ein weiteres Vorbild als Trainer ist Hervé Renard, der Trainer Saudi-Arabiens, der nicht nur in einigen Phasen der Gruppenspieltage mit gutem Ballbesitzfußball aufwarten konnte, wie wir es von den Saudis bereits 2018 in Ansätzen gesehen haben, sondern der darüber hinaus eine recht stabile Defensivtaktik entwickelt hatte. Renard konnte mit einem mäßig besetzten Kader damit das umsetzen, was sich so viele Teams vor dem Turnier angesichts der geringen Vorbereitungszeit und des Charakters einer WM vornahmen.