Schuster erzählt von Alphonso Davies' angenehmem Umfeld und warum die Leihe von Hasan Salihamidzics Sohn Nick nach Vancouver gescheitert ist. Außerdem erinnert er sich an eine Bergbesteigung mit Tuchel und ein Treffen mit Schalkes Ultras.
Wie Schuster einst vom Jura-Studenten zu Christian Heidels Schattenmann in Mainz wurde, berichtete er bereits vor einigen Jahren in seinem ersten Interview mit SPOX und GOAL.
Herr Schuster, Sie arbeiten seit Ende 2019 für den kanadischen MLS-Klub Vancouver Whitecaps. Wie kam das Engagement zustande?
Axel Schuster: Ziemlich zufällig. Eine Headhunting-Firma aus London hat mich damals wegen eines Postens als Sportdirektor bei einem Premier-League-Klub kontaktiert. Im ersten Gespräch hieß es, dass es generelles Interesse gäbe. Vor einer finalen Entscheidung sollte aber noch abgewartet werden, wie es mit dem Trainer weitergeht. Für mich war das in Ordnung. Dann kam der Headhunter aber mit einem möglichen Job bei den Vancouver Whitecaps auf mich zu.
Und Sie hatten direkt Interesse?
Schuster: In London haben Sondierungsgespräche mit 25 Kandidaten stattgefunden. Ich habe einfach mal mitgemacht und es in die zweite Runde vor Ort in Vancouver geschafft. Da war ich noch nie in meinem Leben, die Stadt wollte ich mir gerne mal anschauen. Dann war ich plötzlich unter den letzten drei Kandidaten. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich nicht mehr rumspielen. Da musste ich mit meiner Frau besprechen, ob ich das wirklich machen will - und ich wollte.
Dann kam die Corona-Pandemie.
Schuster: Ja, drei Monate später ging Corona los. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Meine Familie ist in Deutschland geblieben. Neun Monate lang war ich von ihr getrennt. Das war eine schwierige, aber auch aufregende Zeit.
Axel Schuster: Seine Karriere-Stationen
Zeitraum | Klub | Funktion |
1992 bis 2016 | FSV Mainz 05 | Teammanager |
2016 bis 2019 | FC Schalke 04 | Sportdirektor |
seit 2019 | Vancouver Whitecaps | Sportdirektor und Geschäftsführer |
Wie zufrieden sind Sie mit den bisherigen dreieinhalb Jahren in Vancouver?
Schuster: Im Vergleich zu dem, was der Verein vorher erreicht hat, waren wir relativ erfolgreich. Wir haben die Playoffs erreicht und zweimal die kanadische Meisterschaft gewonnen. Das ist so etwas wie der DFB-Pokal Kanadas, weil die Klubs in verschiedenen Ligen spielen.
Welchen Eindruck haben Sie von der MLS?
Schuster: Zuvor war ich wie viele Europäer ignorant. Leute urteilen über die MLS, ohne irgendetwas über die Liga zu wissen. Jeder, der sich näher mit der MLS beschäftigt, ist von ihrer finanziellen Kraft und sportlichen Attraktivität überrascht.
Wie stehen Sie zum Playoff-System? Wäre das auch was für die Bundesliga?
Schuster: In einer Liga ohne Absteiger wie der MLS ist das unabdingbar. Ansonsten würden am Ende der Saison viele Spiele jeglichen Reiz verlieren. Die Attraktivität der Relegation zeigt, dass solche K.-o.-Spiele in Deutschland Interesse hervorrufen. Ich bin mir sicher, dass auch Playoffs gut angenommen werden würden. Die Frage ist, ob das wirklich fair wäre.
Hatten Sie seit Ihrem Wechsel nach Kanada Angebote aus Europa?
Schuster: Es gab Anfragen aus der 2. Bundesliga, Dänemark und den Niederlanden. Aber das habe ich alles abgeblockt. Ich fühle mich in Vancouver sehr wohl. Vor ein paar Monaten habe ich für vier Jahre verlängert. Der kanadische Fußball ist so erfolgreich wie nie zuvor. Bei der WM 2026 werden Spiele in Vancouver ausgetragen. Da will ich dabei sein.
Der berühmteste kanadische Fußballer stammt aus der Nachwuchsabteilung der Whitecaps und spielt in Deutschland: Alphonso Davies vom FC Bayern München. Er hat Vancouver etwa ein Jahr vor Ihrer Ankunft verlassen. Kennen Sie ihn persönlich?
Schuster: Wir haben mal miteinander gesprochen, aber er hat leider nicht viel Zeit. Wir wollen ihn unbedingt als Ehrengast zu einem Spiel ins Stadion holen. Vancouver ist nicht seine erste Anlaufstelle in Kanada. Ursprünglich kommt er aus Edmonton, wo wir eine Akademie betreiben. Seine Familie lebt dort bis heute. Mit seinem Umfeld habe ich viel und gerne Kontakt.
Wie erleben Sie sein Umfeld?
Schuster: Das sind sehr bodenständige Leute - und alles große Whitecaps-Fans. Alphonso arbeitet mit den richtigen Leuten zusammen. Sein Berater hat ihn schon damals in Edmonton als junges Talent unterstützt. Er hat ihn zum Training gefahren und sogar mit ihm trainiert. Zum Glück ist ihm Alphonso bis heute treu geblieben. Er hat den Avancen größerer Berater-Agenturen widerstanden. Alphonsos Berater kümmert sich auch um unseren nächsten Shootingstar Ali Ahmed. Ich verteufle gerne Berater, weil viele auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, aber bei ihm ist das nicht der Fall. Neulich hat er mir übrigens bestätigt, dass viele Klubs Interesse an Alphonso haben.
Hasan Salihamidzics Sohn Nick ging vergangenen Sommer den umgekehrten Weg wie Davies: Er wechselte leihweise vom FC Bayern zu Vancouvers Reserve, setzte sich dort aber nicht durch und brach die Leihe im Dezember vorzeitig ab. Warum hat es nicht funktioniert?
Schuster: Es hat an ganz vielen Dingen gelegen, die unglücklich zusammen gekommen sind. Weil wir nach Kalenderjahren spielen, kam er mitten in der Saison und noch dazu aus einer langen Verletzung. Bei seinen ersten Einsätzen hatte er Probleme mit der physischen Spielweise. Außerdem hat Nick unter der Distanz zur Familie gelitten. Er hat sich unglücklich gefühlt, war ein bisschen verloren. Als er sich noch mal verletzt hat, verließ ihn der Glaube, dass es noch funktionieren kann. Weil er gut beraten ist und seine Familie ein großes Netzwerk hat, lagen ihm andere Angebote vor. Dann haben wir uns auf einen Abbruch der Leihe geeinigt.
Im Zuge seines Wechsels nach Vancouver hat er getwittert: "Halbes Jahr, um fit zu werden, dann MLS". Was war die Absprache?
Schuster: Es war genauso geplant, wie er es beschrieben hat. Abgesprochen war, dass er diesen Winter die Vorbereitung mit den Profis mitmacht und dann alles selbst in der Hand hat. Wir holen keinen Spieler aus Deutschland, dem wir keine Perspektive in der MLS zutrauen.
Wie haben Sie ihn als Typ erlebt?
Schuster: Ich kann nur Positives über Nick sagen. Er hat sich toll eingegliedert und seinen Nachnamen nicht raushängen lassen.
Hatten Sie im Zuge des Wechsels auch mit seinem Vater zu tun?
Schuster: Die Verhandlungen habe ich mit Jochen Sauer (NLZ-Chef des FC Bayern, Anm. d. Red.) geführt. Hasan war später für ein paar Tage zu Besuch. Ich kann mich erinnern, als er gesagt hat: "Es ist unfassbar! Ich bin durch die Innenstadt spaziert und niemand hat mich angesprochen oder wollte ein Foto mit mir. Diese Freiheit ist viel wert."
Der FC Bayern hat neulich eine Kooperation mit Vancouvers MLS-Rivalen Los Angeles FC abgeschlossen. Wie beurteilen Sie das?
Schuster: Solche Kooperationen ergeben meiner Meinung nach nur Sinn, wenn sie nicht auf klassischen Spieleraustausch ausgelegt sind. Für den FC Bayern geht es bei der Kooperation um den Ausbildungsbereich und kommerzielle Aspekte. Es geht darum, die Marke FC Bayern in Nordamerika zu platzieren. Das ergibt Sinn, denn Nordamerika ist ein großer Markt. Die Premier League generiert in Nordamerika mehr TV-Einnahmen als die NHL. Daran sieht man, wie groß das Fußballinteresse hier ist. Ich verstehe, warum es den FC Bayern in die großen Märkte wie Los Angeles und New York (dort unterhält der Klub ein Büro, Anm. d. Red.) zieht. Deshalb haben sie auch die Partnerschaft mit Dallas zugunsten des LAFC beendet.
Wie wichtig ist die Bundesliga in Nordamerika?
Schuster: Durch die gemeinsame Sprache hat die Premier League einen großen Vorteil. Viele Leute schauen aber auch gerne deutschen Fußball, weil er der in der MLS praktizierten Spielweise am ähnlichsten ist. Das sieht man daran, wie gut sich aus Deutschland verpflichtete Spieler wie Damir Kreilach, Alex Ring, Timothy Tillman oder Alessandro Schöpf hier einfügen.
Ein Sprung von Kanada nach Mainz: Zwischen 2008 und 2014 haben Sie sechs Jahre lang mit Thomas Tuchel zusammengearbeitet: Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an ihn denken?
Schuster: Dass er in der Öffentlichkeit falsch wahrgenommen wird. Viele Leute bezeichnen ihn als schwierig, verbissen und unnahbar. Diese Leute haben ein Bild von ihm, das nicht stimmt. In den vielen Jahren unserer Zusammenarbeit habe ich ihn als sehr kümmernden, hintergründigen, liebenswerten, witzigen Menschen kennengelernt. Vor allem aber als besessenen Anführer, der jeden Spieler ans absolute Limit pushen will. Dabei tritt er sehr selbstüberzeugt auf. Aber das darf er auch, weil er ein außergewöhnliches Verständnis von Fußball hat. Er spielt keine Rollen, tritt überall gleich auf. Das zeichnet die besten Trainer aus. Seine Sichtweisen trägt er seinen Spielern mit einer besonderen Überzeugung vor.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Schuster: Ich erinnere mich an ein Spiel gegen den VfL Wolfsburg, bei dem wir zur Halbzeit 0:3 in Rückstand lagen. Er hat gesagt, dass wir dieses Spiel noch gewinnen - und jeder hat ihm geglaubt. Tatsächlich haben wir 4:3 gewonnen.
Bevor Tuchel 2009 die Bundesliga-Mannschaft übernommen hat, war er ein Jahr lang Trainer der A-Junioren. Ist er da anders aufgetreten?
Schuster: Nein, er war von Anfang an gleich. Ich kann mich gut an das Gespräch in der Wohnung von Christian Heidel (damals Sportvorstand, Anm. d. Red.) erinnern, bei dem wir ihm den Posten als Profitrainer angeboten haben. Er hatte ganz klare Vorstellungen, wie alles laufen sollte. Da hat er uns richtig herausgefordert. Das muss man sich mal vorstellen: Wir bieten einem A-Junioren-Trainer einen Posten in der Bundesliga an - und er stellt Forderungen. Das zeigt, wie Thomas funktioniert.
Hat er sich während seiner fünfjährigen Amtszeit als Cheftrainer verändert?
Schuster: Als Mensch hat er sich bis zum heutigen Tag nicht verändert. Aber sein Lebensumfeld hat sich verändert. Durch seine Berühmtheit fällt es ihm immer schwerer, ein normales Leben zu führen. Dabei ist ihm genau das eigentlich wichtig.
Tuchel greift regelmäßig auf besondere Motivations- und Teambuilding-Maßnahmen zurück. Im Zuge einer Vorbereitung mit Mainz ließ er seine Mannschaft mal auf einer Schweizer Berghütte übernachten und einen 3000er bestiegen.
Schuster: Er will Spieler an ihre Grenzen und darüber hinaus bringen. Bis zu einem Punkt, an dem sie denken: Das geht nicht mehr. Er will, dass sie Widerstände und Ängste überwinden. Bei dieser Bergbesteigung wollte er eine Gruppendynamik kreieren und dafür sorgen, dass auch das schwächste Glied auf den Gipfel hochgezogen wird.
Wie haben Sie dieses Erlebnis in Erinnerung?
Schuster: Am Abend davor hat unser Bergführer gefragt, wer schon mal auf über 2000 Metern war. In der ganzen Mannschaft gab es nur zwei Spieler. Für fast alle war das Neuland. Am nächsten Morgen sind wir um 4.30 Uhr aufgestanden und gemeinsam hinauf gewandert. Das Foto vom Gipfel habe ich heute noch als Bildschirmschoner.
Wie ist Tuchel selbst mit der Situation umgegangen?
Schuster: Er hatte zwar keine Höhenangst, aber großen Respekt. Thomas ist nicht leichtfüßig hoch marschiert. Er zählte eher zu den Zögerlichen. Das haben die Spieler auch gemerkt und das war gut.
Fallen Ihnen noch andere spezielle Teambuilding-Maßnahmen Tuchels ein?
Schuster: Er hat einen Frühstücksdienst eingeführt. Jede Woche mussten sich drei Spieler vor dem Training ein Frühstück überlegen und dafür einkaufen. Es gab keinen Einkaufszettel, sondern die Vorgabe: Denkt selber darüber nach! Thomas wollte in jeder Situation neue Reize setzen. Diesbezüglich fällt mir übrigens auch noch unser erster Sieg in München ein.
Im September 2010. Was war da los?
Schuster: Obwohl das Spiel auf 15.30 Uhr angesetzt war, sind wir erst am Spieltag selbst angereist. Das war der erste Charterflug in der Geschichte von Mainz, wir hatten eine kleine Propellermaschine organisiert. Auf dem Weg vom Flughafen zum Stadion sind wir in einen riesigen Stau geraten. Vielleicht hat uns Thomas aber auch absichtlich hineinmanövriert. Schließlich kennt niemand München so gut wie er. 48 Minuten vor Spielbeginn kamen wir im Stadion an. Die Bayern-Bosse haben gefragt, ob wir den Anpfiff verschieben sollen. Aber Thomas meinte nur: "Nö, nö, alles gut." Mit dieser speziellen Maßnahme wollte er die Mannschaft vom ganzen Trubel um die Allianz Arena und den FC Bayern ablenken. Anflug, Hinfahren, Umziehen, Aufwärmen, Einlaufen, Spielen. Und dann haben wir 2:1 gewonnen.
Im Laufe seiner fünften und letzten Saison als Mainzer Cheftrainer wirkte Tuchel äußerst gereizt - regelmäßig ist er mit eigenen Spielern, Schiedsrichtern oder Journalisten aneinandergeraten. Wie haben Sie ihn damals wahrgenommen?
Schuster: Er hat die Messlatte für sich und seine Mannschaft von Jahr zu Jahr höher gelegt. Aber Mainz ist in seinen Möglichkeiten limitiert. In seiner letzten Saison hat er die Latte dermaßen hoch gelegt, dass sogar Leute im engsten Umfeld gezweifelt haben. Dann hat er alleine gegen alle Widerstände gekämpft. Teilweise waren das die Schiedsrichter, teilweise die Medien. Dadurch hat er zu viel Energie verloren und sich abgenutzt. So kam bei ihm das Gefühl auf, mit Mainz nicht mehr erreichen zu können. Also ist er gegangen.
Haben Sie oder Christian Heidel versucht, ihn einzubremsen?
Schuster: Man kann einen Thomas Tuchel nicht einbremsen, das ist unmöglich. Er lebt für seine Überzeugung. Wir haben versucht, ihm Freiräume zu schaffen. Aber die wollte er nicht haben. Als er seinen Abschied angekündigt hat, haben wir gesagt: "Mach' drei Monate Urlaub, für die Zeit finden wir eine Lösung und dann übernimmst du deinen Posten wieder." Aber das war für ihn keine Option. Bei Thomas gibt es 100 Prozent oder gar nicht.
Wie emotional verlief die Verabschiedung?
Schuster: Die Verabschiedung war zu jenem Zeitpunkt emotional, aber negativ emotional. Bei uns hat Unverständnis darüber geherrscht, warum er seinen noch ein Jahr gültigen Vertrag nicht erfüllen wollte. Wir waren damals der festen Überzeugung, dass es für Mainz 05 keinen besseren Trainer gibt als ihn. Sogar ein ausgelaugter Tuchel war besser als jeder andere Trainer. Aber er konnte und wollte nicht mehr. Außerdem hatte er das Gefühl, dass seine Leistungen als Trainer in der Öffentlichkeit nicht genügend wertgeschätzt werden. Versöhnlich verlief dann aber seine Rückkehr für das Abschiedsspiel von Nikolce Noveski.
Das war 2017, drei Jahre nach seinem Abschied aus Mainz.
Schuster: Thomas hat die eine Mannschaft trainiert, Kloppo die andere, viele ehemalige Spieler waren da und das Stadion war voll. Da hat er die verdiente Liebe der Leute erfahren. Das war sehr emotional und wertschätzend.
Während seiner Zeit in Mainz wurde Tuchel regelmäßig mit Vor-Vorgänger Jürgen Klopp verglichen. Hat ihn das genervt?
Schuster: Es hat ihn nicht genervt, aber irritiert - und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil er in der Öffentlichkeit oft als Klopp-Zögling dargestellt wurde. Das ist überhaupt nicht wahr, die beiden waren niemals gleichzeitig bei Mainz. Zweitens, weil Vergleiche meist nur in dem Bereich angestellt wurden, in dem Klopp seine absoluten Stärken hat: Volksnähe. Kloppo gibt Menschen das Gefühl, ganz nah bei ihnen zu sein, selbst wenn sie es nicht sind. Tuchel verausgabt sich in seiner ursächlichen Arbeit als Trainer dagegen so, dass er abgesehen davon nur noch Energie für seine Familie hat. Er hat dann keine Energie mehr, sich als volksnaher Typ zu geben. Keine Vergleiche wurden dagegen dort angestellt, wo Tuchel besser als Klopp abgeschnitten hat: harte Fakten wie Punkte oder Tabellenplätze. In einer Bundesliga-Tabelle über Tuchels fünf Jahre im Klub liegt Mainz auf Platz fünf.
Haben Sie noch Kontakt mit Tuchel?
Schuster: Wenn es sich ergibt, dann schreibe ich ihm - genau wie Kloppo. Ich bin aber nicht derjenige, der sich nach jedem Sieg meldet. Das wäre langweilig. Ich melde mich lieber, wenn er ein Down hat oder ihm Unrecht geschieht. Dann erinnere ich ihn an unsere großen Zeiten in Mainz.
2016 haben Sie Mainz nach 24 Jahren verlassen, anschließend waren Sie drei Jahre lang für den FC Schalke 04 tätig. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?
Schuster: Schalke ist einer der besondersten Klubs der Welt. Ich habe immer noch mein Haus dort. Wenn ich nach Deutschland fahre, fahre ich nach Gelsenkirchen. Ich spüre eine Verbindung zu den Leuten in der Region. Es ist einfach schade, wie unruhig dieser Verein ist. Das tut mir Leid für Schalke. Ich frage mich immer: Was bedingt was? Führt die Bedeutung des Klubs zu Unruhe oder umgekehrt? Ich hoffe immer noch darauf, dass Schalke zur Ruhe findet. Schalke ist der drittwichtigste Verein Deutschlands. Aber diese Unruhe ist ein großer Wettbewerbsnachteil.
Wie äußert sich das?
Schuster: Beim FC Bayern herrscht auch eine permanente Unruhe, aber dort gibt es bessere finanzielle Voraussetzungen. Der FC Bayern kann sich die besten Spieler der Welt leisten. Spieler, die Charakterstärke mit fußballerischer Klasse verbinden. Die sich nicht davon verrückt machen lassen, was auf Social Media abgeht, wie die Stimmung in der Stadt ist, was Journalisten schreiben. Schalke kann sich Spieler, die beide Aspekte vereinen, nicht leisten - und muss sich mit Klubs wie Freiburg oder Union duellieren, wo der Umgang mit Unruhe nicht so wichtig ist.
Hat diese Unruhe die Mannschaft während Ihrer Zeit bei Schalke tatsächlich stark beeinflusst?
Schuster: Definitiv, aber in beide Richtungen. Spieler werden bei Schalke zu schnell hochgehoben und zu früh fallen gelassen. Wir sind mit einer jungen, entwicklungsfähigen Mannschaft Vizemeister geworden und haben das Champions-League-Achtelfinale erreicht. Dann hat die ganze Unruhe zu Chaos, Panik und Umwerfungen geführt. So wurden bei Schalke ein bis heute sehr erfolgreicher Trainer wie Domenico Tedesco und sehr talentierte Spieler wie Nabil Bentaleb oder Amine Harit verheizt. In einem ruhigen Verein hätten sie sich entwickeln können.
Die Fans spielen bei Schalke seit jeher eine wichtige Rolle. Das kann zu wunderbaren Szenen wie beim Aufstieg im vergangenen Sommer führen, aber auch zu hässlichen wie bei der Jagd auf die Spieler vor der Veltins Arena im Abstiegsjahr 2021. Wie beurteilen Sie die Nähe zwischen Klub und Fans?
Schuster: Vorfälle wie beim Abstieg dürfen natürlich nicht passieren, aber die dafür verantwortliche Gruppe ist verschwindend gering. Das kann man nicht verallgemeinern. Ich finde nicht, dass die Fans bei Schalke zu nah dran sind. Genau das macht den Verein doch aus.
Wie eng war damals Ihr Kontakt mit der Fanszene?
Schuster: Wir haben unsere Trainingslager extra so organisiert, dass möglichst viele Fans dabei sein können. Während meiner ersten Saison mit Trainer Markus Weinzierl haben die Ultras nach einer Niederlage gefragt, ob sie sich mit der Mannschaft austauschen dürfen. Wir haben zugestimmt. Das war eine beeindruckende Begegnung, über die anschließend niemand gesprochen hat.
Wie lief das Treffen ab?
Schuster: Die Ultras haben kurz ihre Unzufriedenheit ausgedrückt, dann aber gesagt: "Köpfe hoch! Wir sind für euch da!" Wir haben gemerkt, dass wir auf diese Leute zählen können. Danach sind wir heimgefahren und hatten alle ein besseres Gefühl. Der Respekt war immer da, es wurden keine Grenzen überschritten. Die Worte der Ultras waren harmloser, als was mancher Trainer sagt oder Journalist schreibt. Ich finde solche Treffen total gut. Ich bevorzuge eine direkte Konfrontation, als wenn das in den sozialen Netzwerken passiert. Wir spielen für die Fans und sie haben alles Recht, ihre Unzufriedenheit auszudrücken.
Wie haben die Spieler reagiert?
Schuster: Die jüngeren Spieler waren eingeschüchtert, aber die sind auch von einer wütenden Traineransprache in der Kabine eingeschüchtert. Ich sehe da keinen Unterschied. Mit so etwas muss man umgehen können. Bei den Spielern ist die Hemmschwelle beim Kontakt zu den Ultras durch dieses Treffen gesunken. Eigentlich sollte man für so einen Austausch aber nicht bis zu einer Krise warten, sondern das auch in guten Zeiten machen.