"Natürlich", bekräftigte Dylan Hartley nach dem Auftaktsieg über Schottland. Natürlich habe er den Druck auf seinen Schultern gespürt: "Ich habe mich darauf vorbereitet, die Verantwortung hat mich dazu gezwungen. Ich habe in meinem Kopf alle möglichen verschiedenen Situationen durchgespielt."
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Kein Wunder: Der mediale Druck war selbst an dem nach außen hin gerne ruppigen Hakler nicht spurlos vorüber gegangen. Immerhin ruhten die Augen der Rugby-Welt für mehrere Wochen auf Hartley, spätestens nachdem ihn Coach Eddie Jones im Vorfeld des Turniers zum Kapitän ernannt hatte - die Kritik ließ nicht lange auf sich warten.
"Dafür bin ich selbst verantwortlich, aber ich schaue nicht zurück. Ich freue mich einfach, dabei zu sein", erklärte Hartley selbst. Und doch - seine eigene Vergangenheit holt ihn noch immer ein.
Lange Liste von Fehltritten
Ein Sprichwort in Großbritannien vermittelt noch heute: "Rugby is a Gentleman's Game", ein Sport für Ehrenmänner. Hartley passte lange überhaupt nicht in diese Kategorie. Der 29-Jährige wurde in seiner Karriere bisher für insgesamt 54 Wochen gesperrt, immer wieder ließ er seine Emotionen auf dem Platz die Oberhand gewinnen.
So wurde er 2007 für sechs Monate gesperrt, als er Gegenspieler Johnny O'Connor am Auge erwischte. 2012 biss er beim Six Nations Irlands Stephen Ferris in den Finger, 2013 ging er einen Schiedsrichter auf dem Platz verbal an - im Rugby ein absolutes Unding. 2014 schlug er Matt Smith mit dem Ellbogen ins Gesicht und im Vorjahr attackierte er Jamie George auf Kopfhöhe. Die daraus resultierende Suspendierung kostete ihn die Teilnahme an der Weltmeisterschaft.
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Doch Hartley beschränkte sich nicht auf Fehltritte auf dem Platz. So stand er 2011 in den Schlagzeilen, als er während der Weltmeisterschaft in Neuseeland zu heftig feierte - der Abend endete in einer Bar in Queenstown, in der ein sogenannter "Dwarf Throwing Contest" stattfand, also ein Wettbewerb, bei dem kleinwüchsige Menschen möglichst weit geworfen werden. Kurzum: Es stand nicht gerade gut um Hartleys Karriere in der Nationalmannschaft.
"Ich bin ich"
Dann aber übernahm Jones Ende 2015 Englands Nationalmannschaft und Hartley war in prominenter Rolle zurück - genau wie seine Kritiker. Ihm eilte nicht nur ein bestenfalls ungünstiger Ruf voraus, auch um seine körperliche Fitness gab es Fragezeichen. Sieben Wochen lang hatte er während der Saison verletzungsbedingt (Gehirnerschütterung, Rippenprobleme) zuschauen müssen, erst für die letzten beiden Partien kehrte er in Northamptons Startformation zurück.
Seinem Selbstvertrauen und seinem Kampfgeist schadete all das nicht. "Ich bin ich. Jeder kann meine Fehler nachschlagen", erklärte Hartley kurz nach seiner Ernennung zum Kapitän: "Ich bin bereit. Mein letztes Länderspiel ist fast ein Jahr her und wenn du älter wirst, wirst du auch weiser. Dieses Motto werde ich in Ehren halten."
Man ist inzwischen fast geneigt, dem einstigen Raufbold diese Wandlung abzunehmen. Hartley wurde im vergangenen August Vater und das junge Familienglück gab ihm neue Perspektiven: "Rugby ist mein Leben und das ist jetzt seit über zehn Jahren so. Wenn ich ehrlich bin, ist es ganz schön, nach Hause zu kommen und abschalten zu können. Ich war mitunter besessen. Wenn wir gewonnen haben, machte ich mir darüber Gedanken, was wir am Montagmorgen zur Feier des Sieges machen könnten."
Verständnis vom Coach
Jetzt treibt ihn eine andere Art der Obsession: Er will es seinen Kritikern zeigen. "Ich habe mich noch nie so gut auf ein Spiel vorbereitet, weil ich nicht wie ein Versager aussehen wollte", gab Hartley vor dem Schottland-Spiel zu.
Aussagen wie diese rücken Jones' anfangs stark kritisierte Entscheidung zunehmend in ein besseres Licht. Dabei hilft es, dass auch Jones selbst stets offen mit Hartleys Vergangenheit umging: "Du musst einfach hoffen und beten, dass nichts passiert. Menschen werden erwachsen. Jeder macht Fehler, wenn er jung ist. Ich selbst habe als junger Coach wahnsinnig viele Fehler gemacht. Er hat jetzt eine Frau und eine junge Tochter. Das Leben ändert sich, die Prioritäten ändern sich."
Englands neuer Coach war selbst ein ähnlicher Spielertyp wie es sein heutiger Kapitän ist. Beide sind der Meinung, dass die richtige Atmosphäre innerhalb des Teams extrem wichtig ist. "Es geht darum, nach einem harten Arbeitstag zusammen ein Bier trinken zu können. Das haben wir gemacht, wir waren zusammen essen und dürfen unser eigenes Ding machen", fasste Hartley jüngst zusammen.
"Er hat ein Herz aus Gold"
So sickert zunehmend auch die andere Seite des einstigen Troublemakers durch. Hartley, der mit 23 in Northampton bereits zum Kapitän ernannt wurde, ist ein Anführer auf, aber auch abseits des Platzes. Hinter den Kulissen besucht er Marketing-Meetings und weiß, wie der Sport und wie ein Klub auf der Verwaltungs- und Geschäftsebene funktioniert.
Als er im Alter von 19 Jahren zu den Saints kam, wurde er zum Babysitter für die Kinder von Teamkollege Paul Tupai, der noch heute schwärmt: "Dylan erntet für seine Spielweise viel Kritik, aber er ist einer der nettesten Jungs, die man sich vorstellen kann. Er hat ein Herz aus Gold und ich finde es unpassend, wenn die Leute ihn als Schläger hinstellen."
Doch auch sportlich macht Jones' Entscheidung durchaus Sinn. Er zeigt damit, dass England eine Antwort auf die enttäuschende WM geben will, dass das Team wieder dominanter auftreten will. Und auch, dass in der Front Row aggressiv und physisch agiert werden soll. Spielt Hartley gut, kann England Set-Pieces bestimmen. Ein elementares Ziel für Jones.
Kritik nach Italien-Spektakel
Bisher wurde er jedenfalls nicht enttäuscht. Auf den Auftaktsieg gegen die Schotten folgte ein dominantes 40:9 in Italien. Es war Hartley, der anschließend dennoch sofort ansprach, was ihn gestört hatte: "Die erste Halbzeit war frustrierend, auch wenn es insgesamt natürlich ein zufriedenstellender Sieg war. Wir waren nicht bei 100 Prozent und haben hohe Standards, deshalb müssen wir weiter an uns arbeiten."
Der 29-Jährige lässt sich dabei von nichts ablenken, seit einigen Wochen nutzt er etwa Twitter nicht mehr, um einen klaren Kopf zu bewahren: "Du solltest nicht über die Kommentare anderer nachdenken, egal ob positiv oder negativ. Es sind einfach Hintergrundgeräusche und die brauche ich nicht."
Klar ist aber auch: Der mediale Druck wird erst abnehmen, wenn Hartley mit sportlicher Konstanz und dem entsprechenden Verhalten das Vertrauen der Außenwelt erobert hat. Für ihn selbst bleibt das Ziel trotz alledem klar: "Ich bin älter und weiser als vor einem Jahr, und ich werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, um England zum Erfolg zu führen."
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