Bis zu 60.000 Zuschauer werden am 12. Oktober im Deutsche Bank Park, der Heimstätte des Bundesligisten Eintracht Frankfurt, für ein in Deutschland so noch nie dagewesenes Spektakel erwartet. Nicht etwa, um Mario Götze und Co. auf dem Rasen in Aktion zu sehen. Nein, an diesem Tag findet das größte und bislang wichtigste MMA-Event auf deutschem Boden statt.
Dimensionen, die in der MMA-Welt eigentlich nur die UFC oder in der Vergangenheit der in Japan ansässige Veranstalter Pride FC, der Legenden wie Fedor Emelianenko, Wanderlei Silva oder Rampage Jackson hervorgebracht hat, erreichen konnten, werden am 12. Oktober in der hessischen Großstadt erwartet, wenn das Großevent Oktagon 62 mit den beiden deutschen Weltergewichten Christian Jungwirth und Christian Eckerlin im Hauptkampf um den Ehrentitel des "King of Germany" über die Bühne geht. Dabei war besonders Jungwirths Pfad zum MMA-Thron Deutschlands ein steiniger - und eigentlich überhaupt nicht so geplant.
Jungwirth, Sohn eines deutschen Vaters und einer serbischen Mutter, ist heute 37 Jahre alt und hatte als Jugendlicher nichts mit Kampfsport am Hut. Vielmehr wollte der gebürtige Bopfinger wie viele andere in seinem Alter Fußballprofi werden. Die Voraussetzungen dafür waren von Anfang an gegeben, Jungwirth war in seinen frühen Teenagerjahren Jugendspieler beim VfB Stuttgart und fuhr mehrmals pro Woche die mehr als 80 Kilometer lange Strecke von Bopfingen in die baden-württembergische Landeshauptstadt, um am Training teilnehmen zu können.
In dieser frühen Fußballerzeit machte Jungwirth als junger Torwart Bekanntschaft mit einigen Persönlichkeiten, die in der Welt des Fußballs einmal groß rauskommen sollten, darunter die späteren Nationalspieler Andreas Beck und Serdar Tasci sowie mit Thomas Tuchel einer der erfolgreichsten Trainer Deutschlands. "Ich hatte keine Probleme mit ihm, weil er gesehen hat, dass ich ein Arbeitstier bin und alles für die Mannschaft gegeben habe", sagte Jungwirth in einem Bild-Interview einst über Tuchel.
Verletzungen zwingen Jungwirth zu Karriereende - es folgt "Tiefpunkt"
Verletzungen machten Jungwirths Zukunftsplänen allerdings einen Strich durch die Rechnung. Ein Knöchelbruch, Knieverletzungen und sechs Operationen später war der Traum vom Fußballprofi schnell wieder ausgeträumt. Er wurde aussortiert und mit 22 Jahren war dann endgültig Schluss.
Während seine frühen Weggefährten Beck und Tasci mit dem VfB Stuttgart Deutscher Meister wurden, durchlebte Jungwirth eine Leidenszeit, die von Partys, Alkohol, Drogen, Depressionen und einem sechsmonatigen Aufenthalt in der JVA Stadelheim München wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gekennzeichnet war. "Das war die schlimmste Zeit, der Tiefpunkt in meinem Leben", erzählte Jungwirth in seiner eigenen fünfteiligen SWR-Dokuserie. "Ich hatte kein Ziel im Leben. Sport war immer mein Ziel. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich andere Gedanken. Nach außen hat man es nicht gesehen, aber innerlich war ich traurig, wenn die Leute geredet haben. 'Der taugt nichts, der kann nichts, aus dem wird nie was'. Dann fängst du selbst an, das im Kopf nachzureden."
Der Traum vom Fußballprofi war zwar längst vorbei, trotzdem wollte sich Jungwirth nicht vom Sport, den er so liebt, und seinem Herzensverein VfB Stuttgart so einfach lossagen. Wenn schon nicht auf dem Spielfeld, dann eben auf den Rängen wollte Jungwirth für den VfB alles geben. Und so wurde er Teil der Stuttgarter Ultras. "Das muss 2018 gewesen sein, als ich aus Istanbul zum VfB zurückgekehrt bin, haben wir uns wiedergesehen in der Kurve. Da haben wir eine Runde gedreht, und dann stand Chris oberkörperfrei da", erinnert sich Beck lachend zurück.
Jungwirth über Hooligans: "Normale Menschen, die Nervenkitzel suchten"
Jungwirth selbst machte nie einen Hehl daraus, von der Ultras-Szene angetan zu sein. "Ich neige zu extremen Sachen. Fußball war mein Leben. Ich habe mir Videos angeschaut im Internet, wo die Fans ausrasten, singen, klatschen, Bengalos zünden. Das hat mir immer gefallen."
Während für die meisten Stadionbesucher nach dem Abpfiff das Spiel meist zu Ende war, stand für Jungwirth "die dritte Halbzeit" an, in der er gegen Hooligans von rivalisierenden Mannschaften seine Kampffähigkeiten das erste Mal so richtig unter Beweis stellen konnte. "Ich sage mal so, da hat es keinen Unschuldigen getroffen. Die Jungs, die sich dort getroffen haben, wollten alle ein sportliches Erlebnis haben. Mannschafts-Kickboxen. Vom Anwalt bis zum Versicherungsvertreter war da alles mit dabei. Also auch normale Menschen, die einfach den Nervenkitzel suchten. Dann hat man sich einfach ausgemacht: Zehn gegen Zehn. Und so habe ich dann zum Kämpfen begonnen."
Mit 28 Jahren war Jungwirth das erste Mal in einem Boxklub angemeldet. Als 30-Jähriger bestritt er seinen ersten offiziellen MMA-Kampf, den er gegen Chris Kalb via einstimmiger Entscheidung gewann. Das MMA-Geschäft ist gnadenlos und im Vergleich zu anderen Sportarten besonders kurzlebig. Erfolgsgeschichten über Spätzünder wie Jungwirth sind daher besonders rar. Zum Vergleich: Der aktuelle Schwergewichts-Champion und Halbschwergewichts-Legende Jon Jones hatte mit 30 Jahren bereits acht erfolgreiche UFC-Titelverteidigungen in den Beinen. "Der Kampfsport hat in mir das Feuer entfacht. Dann habe ich bemerkt: 'Hier bist du richtig'", fühlte sich Jungwirth endlich zu Hause.
Jungwirth: Kämpferherz, unbändiger Wille und technische Limitationen
Dass er erst spät mit MMA in Berührung gekommen ist, merkt man dem für seine hervorragende Ausdauer bekannten "unsterblichen Kelten" in einigen Bereichen im Oktagon auch an. Man brauche von Jungwirth "keine technische Meisterleistung erwarten, dafür aber Action". Er lasse sich nicht unterkriegen, bewertet Edmon Avagyan, Besitzer des YouTube-Kanals "Ringlife", in wenigen Worten Jungwirths Fähigkeiten im Käfig.
Bestes Beispiel dafür ist eine heute legendäre Szene im Kampf gegen den ehemaligen UFC-Fighter Bojan Velickovic: Der Serbe hatte Jungwirth mit einem tiefen Rear-Naked-Choke früh im Kampf an den Rand einer Niederlage gebracht, Jungwirth jedoch zeigte Herz und den unbändigen Willen, sich aus einer eigentlich ausweglosen Situation zu befreien. Und genau das gelang dem Underdog auch: Mit zitternden Beinen und den 77 Kilogramm schweren Gegner auf seinem Rücken stand "The Kelt" auf und schüttelte ihn mir nichts, dir nichts von sich los. Jungwirth verlor den Kampf gegen den routinierteren Kontrahenten später zwar via Entscheidung, avancierte bei den Fans jedoch zu einer Legende.
Nach sieben Jahren als Kämpfer der gemischten Kampfkünste hat Jungwirth eine Bilanz von 15 Siegen und acht Niederlagen vorzuweisen. Er hat sich in kurzer Zeit zu den Top-Stars der deutschen MMA-Szene hochgekämpft und steht mit seinem Duell im Main Event gegen Landsmann Christian Eckerlin am 12. Oktober kurz davor, Geschichte zu schreiben - ein Beweis dafür, dass man nicht unbedingt den Sprung in die UFC schaffen muss, um als MMA-Kämpfer beachtet zu werden.
Christian Eckerlin vs. Jungwirth: Die beiden Kämper im Head-to-head-Vergleich
Kategorie | Christian Eckerlin | Christian Jungwirth |
Spitzname | "König von Frankfurt" | "The Kelt" |
Nationalität | Deutschland | Deutschland |
Alter | 37 | 37 |
Größe | 1,81 m | 1,81 m |
Rangliste Oktagon MMA (Weltergewicht) | 8 | 9 |
Kampfrekord (S-N-U) | 16-6-0 | 15-8-0 |