"Historisch für den Boxsport": Warum Fury vs. Usyk tatsächlich der "Kampf des Jahrhunderts" ist

fury-usyk-1600-0
© getty

Tyson Fury vs. Oleksandr Usyk - heute Abend geht es im historischen "Kampf des Jahrhunderts" in Riad nicht nur um alle vier WM-Gürtel und die Krone im Schwergewicht, sondern irgendwo auch um die Zukunft des Boxsports. Die Vorzeichen könnten dabei unterschiedlicher kaum sein: Es geht um eine Menge Geld, aber gleichzeitig auch um die Seele einer ganzen Nation.

Cookie-Einstellungen

Üblich ist es nicht, dass schon Tage vor einem großen Boxkampf Blut fließt. Martialische Sprüche sind an der Tagesordnung, man denke nur an Mike Tyson, der Lennox Lewis im Jahr 2000 entgegenbrüllte, er werde dessen "Kinder fressen". Dabei hatte der Brite damals noch gar keinen Nachwuchs.

Natürlich gibt es auch die üblichen Schubsereien und Psychospielchen auf den gemeinsamen Pressekonferenzen: Am liebsten würde man da schon die Fäuste sprechen lassen, wird da suggeriert - wäre da bloß nicht die eigene Entourage, die leider dazwischengeht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Tyson Furys Vater trieb es im Vorfeld des Usyk-Kampfes aber noch wilder: Als sich am Montag beide Lager am Rande eines Medienevents mit Sprechchören aufwiegelten, aber sonst schön brav blieben, verpasste der 59-Jährige einem deutlich jüngeren Gegenüber plötzlich einen Kopfstoß - und zog sich selbst dabei eine klaffende Platzwunde auf der Stirn zu. "Irgendein kleiner Idiot kam auf mich zu, bedrängte mich und bekam, was er verdient", erklärte er seinen Ausraster fein säuberlich mit ... "alternativen Fakten", muss man wohl sagen, wenn man sich das Video anschaut.

Sohn Tyson hatte mit der Aktion seines Vaters natürlich keine Probleme. "Mein Vater verkauft mich", plauderte er bei The MMA Hour am Mittwoch munter aus dem Nähkästchen. "Das ist fantastisch. Seine kleine Krawallnummer bringt uns wahrscheinlich eine halbe Million zusätzlicher Pay-per-View-Verkäufe ein." Die ganze Welt habe darüber gesprochen, "das bringt Aufmerksamkeit vom ganzen Planeten zu unserem Kampf nach Saudi-Arabien. Er ist der Traum eines jeden Promoters."

Tyson Fury vs. Oleksandr Usyk, Boxen: Der Vereinigungskampf heute Abend im Liveticker!

fury-usyk-2
© getty

Fury vs. Usyk: Das Boxen braucht den "Kampf des Jahrhunderts"

Dabei hat der "Kampf des Jahrhunderts" derartige Spielchen gar nicht nötig. Gefühlt wird diese Bezeichnung ja alle zwei Jahre für einen großen Fight aus der Mottenkiste geholt - aber diesmal stimmt es eben wirklich. Usyk (21-0-0, 14 KOs) bringt die Schwergewichtsgürtel der WBA, WBO und IBF mit nach Riad, Fury (34-0-1, 24 KOs) den der WBC. Sollte es am Samstagabend kein Unentschieden geben, wird damit der erste "Undisputed Champion" in der Königsklasse des Boxens seit dem Jahr 2000 gekrönt, damals hielt Lewis alle wichtigen Gürtel.

Gleichzeitig sind beide Kontrahenten in ihrer Profikarriere noch ungeschlagen, es steht also auch der Titel des "Linearen Champions" auf dem Spiel: Den hat inne, wer den letzten besten Boxer der Gewichtsklasse besiegte und seitdem nicht verlor - also Fury seit seinem Sieg über Wladimir Klitschko 2015. Ein bisschen kompliziert? Dann passt es ja zum Boxen.

Schließlich gehören schmierige Geschäfte, dubiose Punktrichter-Urteile und undurchsichtige Deals machtgeiler Promoter zum Sport gefühlt seit jeher dazu. Schwergewichtsweltmeister, das war einst der größte Titel der Sportwelt. Max Schmeling, Joe Louis, Rocky Marciano, Muhammad Ali, George Foreman. Mittlerweile hat die UFC dem Boxen den Rang abgelaufen, die Prügelei im Octagon ist attraktiver als der Tanz im Seilgeviert. Schließlich treten dort die größten Namen regelmäßig gegeneinander an, während die Box-Fans oft in die Röhre schauen.

Pflichtverteidigungen, Streitigkeiten um die Kampfbörse, die ach so unantastbare eigene Kampfbilanz: Jahrelang ducken sich die Stars teilweise voreinander weg (siehe Floyd Mayweather vs. Manny Pacquiao).

Auch bei Fury vs. Usyk hat es lange gedauert, fast zu lange. Der letzte Termin im Februar musste abgesagt werden, nachdem sich Fury im Training einen tiefen Cut über dem Auge zugezogen hatte. Davor gab es jahrelanges verbales Säbelrasseln, unterbrochen durch den einen oder anderen Fight gegen Fallobst.

Ganz klar. Der Boxsport braucht diesen Kampf, auch wenn ihn manch einer vielleicht lieber im Madison Square Garden oder in Las Vegas gesehen hätte als im "Sportswashing-Mekka" Riad. Ungeschlagene Schwergewichte im direkten Duell um alle Gürtel und den "Lineal Champion", da muss man schon bis Ali vs. Frazier (1971) zurückschauen, oder Tyson vs. Spinks (1988). Größer geht es nicht.

fury-pk
© getty

Skandalnudel Tyson Fury: "Jeder Mensch kann mental gebrochen werden"

Der größere Star ist dabei zweifellos Fury. Seit Jahren liefert der Brite einen faszinierenden Balance-Akt: Irgendwo zwischen jovialem Tanzbär und geläutertem Enfant Terrible das offen über seine mentalen Probleme spricht, und einem unsympathischen Großmaul, das seine Gegner mit den übelsten Schmähungen überzieht und sich für keinen Skandal zu schade ist. Irgendwie schafft er es, dass ihm der Großteil der Fans dennoch wohlgesonnen geblieben ist. Vielleicht, weil man an einen Spitzenboxer nicht die gleichen Ansprüche stellt wie an den zukünftigen Schwiegersohn. Vielleicht, weil Fury scheint, als sei er "normal geblieben", mit Plauze statt Sixpack. Vielleicht, weil es im Schwergewichtsboxen unter der Herrschaft der Klitschkos viel zu lange viel zu langweilig war.

So oder so bringt er im Vergleich zu Usyk deutlich mehr Fans mit, was auch entsprechend belohnt wird: 70 Prozent der Börse soll er bekommen, nur 30 Prozent der dreifache Champion. Das werden am Ende wohl weit über 100 Millionen Dollar für Furys Bankkonto sein.

Und das reicht dann auch schon aus an Motivation. "Der Kampf ist so attraktiv für mich, weil ich so gut bezahlt werde", tönte Fury im Vorfeld gegenüber dem Telegraph, "um die Gürtel geht es mir nicht. "Die Fans, Puristen und all die anderen Schwachköpfe hören das nicht gern, aber ich boxe für Geld." Wer im Schwergewicht etwas anderes behaupte, der lüge wie gedruckt - und überhaupt sei ihm seine "Legacy" oder sein Ruf herzlich egal: "Das interessiert mich nicht die Bohne." Ein Triumph werde ihn nicht als bestes Schwergewicht seiner Ära etablieren, sondern als "stinkreiches Schwergewicht, das seine Familie ernähren und ihr alles kaufen kann, was es will."

Ob das so ganz stimmt? Wie wichtig Fury der Titel des "Undisputed Champion" wirklich ist, wird man wohl nur im Falle seines Sieges erfahren. Schließlich ist der "Gypsy King" auch als eifriger Student der Boxgeschichte bekannt. Dafür muss er aber erst einmal Usyk in die Knie zwingen.

Dass das ein schweres Unterfangen werden dürfte, zeigen seine Auftritte in der jüngeren Vergangenheit. Natürlich gab es auch den einen oder anderen verbalen Tiefschlag gegen den Ukrainer, doch insgesamt schien der Respekt zu überwiegen. Ein "Elite-Kämpfer" sei Usyk: "Um ihn in irgendeiner Weise zu unterschätzen, müsste man ein Trottel sein." Schlagbar sei sein Gegner allerdings im Kopf: "Jeder Mensch kann mental gebrochen werden."

Dafür braucht es allerdings auch die passende Konstitution: Am Freitag brachte Fury beim offiziellen Wiegen 118,8 Kilogramm auf die Waage, fast fünf Jahre war er nicht mehr so leicht in den Ring gestiegen. Zum Vergleich: Als er sich im Oktober gegen Ex-UFC-Kämpfer Francis Ngannou sensationell auf die Bretter gelegt hatte, waren es 126 Kilo gewesen - der beste Beweis dafür, wie ernst es Fury damals war und wie ernst es ihm jetzt ist: "Er ist wahrscheinlich der Beste, gegen den ich je gekämpft habe."

usyk-promo
© getty

Oleksandr Usyk: Kampf für die Heimat, Training wie "Rocky"

Bei Usyk würden derartige Schwankungen überraschen. Zwar wurde sein offizielles Kampfgewicht zunächst mit knapp 106 Kilo angegeben, deutlich mehr als noch in seinen letzten Kämpfen gegen Daniel Dubois und Anthony Joshua. Doch dann stellte sich heraus, dass sich Ansager Anthony Buffer einfach nur versprochen hatte - statt 233,5 Pfund waren es nur 223,5. Der ehemalige Cruisergewichtler hatte also nur ein knappes Kilo zugelegt.

Über 17 Kilogramm und 17 Zentimeter Reichweite mehr, dass ist ein echtes "Pfund" für Fury. Für den 37-Jährigen sind derartige körperliche Defizite allerdings nichts Neues. Er kommt über seine exzellente Beinarbeit, trainiert nicht umsonst mit Anatoly Lomachenko, dem Vater von Leichtgewichtsweltmeister Vasiliy Lomachenko. Da stehen im Training auch schon mal zehn Kilometer Schwimmen auf dem Plan, "Rocky" lässt grüßen.

Olympiasieger, Undisputed Champion im Cruisergewicht, dann der Aufstieg in die höchste Gewichtsklasse und die beiden souveränen Siege gegen Anthony Joshua. Boxerisch kann Usyk kaum jemand das Wasser reichen. "Seine exzellente Beinarbeit, die Schnelligkeit, Variation und Präzision seiner Schläge ist einzigartig. Er ist jemand, den ich in der Art, wie er boxt und Kämpfe bestimmt, so noch nie gesehen habe", lobt ihn der ehemalige Klitschko-Manager Bernd Bönte beim SID.

Und dann muss man sich natürlich die Frage stellen, was einen auf der Krim geborenen Ukrainer, in der Heimat längst Volksheld, überhaupt noch schocken soll. "Er sieht sich als Botschafter seiner Heimat auf einer einzigartigen weltweiten Plattform", sagt Bönte. Um sich im spanischen Trainingslager auf den Fight vorzubereiten, verpasste Usyk in der Ukraine sogar die Geburt seines vierten Kindes.

Furys Mätzchen schienen auf jeden Fall im Vorfeld keinerlei Eindruck zu hinterlassen, vielleicht fuhr der sie auch deshalb zurück. "Hab keine Angst", will er Fury beim Face-Off am Freitag zugeraunt haben: "Ich werde dich morgen nicht alleinlassen."

Er konzentriert sich auf allein auf die Aufgabe im Ring: "Sollte ich nervös sein, werde ich verlieren." Klein ist der 1,91-Meter-Mann nur im direkten Vergleich im Fury, hier darf man sich nicht täuschen lassen. Dessen Knockout-Power geht ihm ab, aber als Rechtsauslegerkönnte er den Briten vor Probleme stellen - und natürlich auch dessen frisch verheilten Cut anvisieren.

fury-usyk-3
© getty

Fury vs. Usyk: Wer sich nicht auf die Punktrichter verlassen sollte

Die meisten Fans in Riad dürfte wohl Fury auf seiner Seite haben, doch der Respekt vor Usyk ist groß. Als Unterstützung ist unter anderem Wladimir Klitschko angereist: "Es ist ein historischer Kampf für den Boxsport. Er wird den ersten ukrainischen Schwergewichts-Champion hervorbringen, der alle Titel vereint!"

Der eine kämpft für Geld, der andere für die vom russischen Angriffskrieg gebeutelte Heimat? In Hollywood stünde da der Sieger längst fest. Doch Usyk muss mit dem unorthodoxen Stil seines Gegners erst einmal klarkommen: Fury kann nicht nur exzellent boxen, sondern auch richtig dreckig kämpfen, sich ständig auf den Gegner lehnen und diesen so mürbe machen. "Wenn der Kampf ein Boxing-Match wird, gewinnt Usyk. Wenn der Kampf ein Streetfight wird, gewinnt Fury", sagt Bönte.

Ein Erfolg für Fury - und ein weiterer im bereits vereinbarten Rückkampf - verspräche ein anschließendes Mega-Duell gegen den wieder erstarkten Anthony Joshua. Für den Sport insgesamt eindeutig attraktiver als ein Sieg Usyks, dieser sollte sich bei einem ausgeglichenen Kampf also nicht unbedingt auf die Punktrichter verlassen.

Die Kondition spricht für den Ukrainer, der in seiner Profikarriere noch nie zu Boden ging. Aber auch Fury ist bekanntlich unkaputtbar und bewies in den Kämpfen gegen Wilder eine Menge Schlagkraft. Bei den Buchmachern sieht man es dementsprechend ausgeglichen.

Für Spannung ist also gesorgt. Oder, um es mit Fury auszudrücken: "Es gibt ein Feuerwerk!"

Tyson Fury vs. Oleksandr Usyk: Die Kämpfer im Überblick

NameTyson FuryOleksandr Usyk
LandGroßbritannienUkraine
Alter35 Jahre37 Jahre
Pro15 Jahre10 Jahre
Größe206 cm191 cm
Reichweite216 cm199 cm
DivisionSchwergewichtSchwergewicht
Stil

Linksauslage

Rechtsauslage

TitelWBC (Schwer)IBO, WBO, IBF, WBA (Super), The Ring (Schwer)
Bilanz34 - 0 - 1 (24 KOs)21 - 0 - 0 (14 KOs)