Herr Schäfer, lassen Sie uns ganz vorne anfangen. Wie dürfen wir uns den Verlauf Ihrer Kindheit vorstellen?
Leon Schäfer: Ich habe schon immer sehr viel Sport getrieben. In der Grundschule habe ich mit Tischtennis angefangen. In Feriencamps habe ich Tennis gespielt mit Freunden. Mit dem Wechsel von Lilienthal nach Bremen ab der dritten Klasse kamen dann Fußball und auch Handball dazu. Ich musste mich entscheiden und die Wahl ist auf Fußball gefallen. Insgesamt war ich viel draußen und mit meinen Freunden unterwegs.
Waren Sie eher ein extrovertiertes oder introvertiertes Kind?
Schäfer: Ich war ein sehr schüchterner Junge und habe mich oft zurückgehalten. Also eher introvertiert. Im Sport konnte ich aber mein richtiges Ich zeigen.
Im Alter von 12 Jahren veränderte sich Ihr Leben komplett. Wie wurde Ihre Krankheit diagnostiziert?
Schäfer: Beim Schlittschuhlaufen habe ich eine Kufe vors Schienbein bekommen. Daraufhin ist dort eine Beule entstanden. Ich dachte, sie würde weggehen. Dem war aber nicht so. Nach zweieinhalb Monaten bin ich zum Arzt, der hatte den Verdacht auf eine Kalkablagerung. Im Krankenhaus wurde dann eine Biopsie vorgenommen und sehr schnell festgestellt, dass es bösartiger Knochenkrebs ist.
Konnten Sie diese Diagnose mit 12 Jahren überhaupt richtig begreifen?
Schäfer: Nein, ich habe es nicht wirklich gecheckt. Man hat zwar immer gehört und im Fernsehen gesehen, dass Krebs eine schwere Krankheit ist, aber begriffen habe ich es nicht. Meine Mutter hat mir dann gesagt, dass ich eine Chemotherapie beginnen muss. Ich habe das alles aber recht locker aufgenommen. Meine Eltern hatten da wesentlich mehr mit zu kämpfen.
Vor der Amputation wurde noch mit einigen Operationen der Versuch unternommen, das Bein zu retten.
Schäfer: Genau, eine Amputation kam für uns erst nicht in Frage. Wir wollten den betroffenen Knochenteil am Schienbein entnehmen und eine Eisenstange einsetzen. Aber mein Fuß hat das nicht angenommen und ist abgestorben. In vier weiteren Operationen wurde versucht, den Bluttransport in den Fuß herzustellen. Aber das klappte auch nicht.
Die Amputation war schließlich unausweichlich?
Schäfer: Es war am Ende besser so. Als die Ärzte mir das erklärt haben, war es sehr schwer für mich. Und als ich nach der OP die Decke aufgedeckt habe und mein Bein nicht mehr da war, war ich schon geschockt. Ich war einfach nicht darauf vorbereitet. Aber es sollte so sein und ich bin auch mit dieser Behinderung meinen Weg gegangen.
In der Klinik durften Sie sich vor der Chemotherapie etwas wünschen. Die meisten Kinder wählen in diesem Fall etwas Materielles, Sie haben das nicht getan. Warum?
Schäfer: Ich habe lange überlegt. In der Klinik lag ein Flyer herum vom TSV Bayer 04 Leverkusen, mit Sportarten, die man mit einer Behinderung ausüben kann. Da war unter anderem Sitzvolleyball dabei und auch Leichtathletik. Mir war auf jeden Fall klar, dass ich wieder aktiv werden will. Und deshalb habe ich mir gewünscht, einen Leichtathleten mit Beinprothese zu treffen. Als ich beim Training zugeschaut habe, war mir sofort klar, dass ich das machen möchte.
Schließlich kam es zu einem Treffen. Worüber wurde dabei gesprochen?
Schäfer: Da kann ich mich gar nicht so genau erinnern. Aber wir mussten auch nicht viel reden. Wichtig war, dass ich gemerkt habe, was in der Leichtathletik möglich ist. Ich wollte wieder schnell laufen.
Wann ging es mit dem Training richtig los?
Schäfer: Nach ungefähr drei Monaten, da zuerst meine Prothese hergestellt werden musste. An meiner Schule wurde ein Spendenlauf organisiert, weil die Krankenkasse solche Sportprothesen nicht finanziert.
Wie fühlten sich die ersten Schritte mit der Prothese an?
Schäfer: Man lernt das Laufen noch einmal komplett neu, wie ein Baby. Man muss Vertrauen entwickeln und sich auf seinen Körper verlassen. Da darf man auch keine Angst haben. Aber mit Kraft und Willen geht das dann recht schnell. Es sah aber wohl recht lustig aus. Ich bin auch ein, zwei Mal hingefallen.
Inwieweit hat die Amputation Ihren Charakter verändert, sowohl positiv als auch negativ?
Schäfer: Das ist eine sehr gute Frage. Positiv war auf jeden Fall, dass ich sehr schnell gereift bin. Ich habe mein Leben viel mehr zu schätzen gelernt. Und ich bin zielstrebiger geworden. Negativ war vielleicht, dass ich noch weniger gern Emotionen zeige.
Stellen Sie sich oft die Frage, was gewesen wäre, wenn das alles nicht passiert wäre?
Schäfer: In der Anfangszeit war das schon öfter der Fall. Gerade in Bezug auf Fußball. Aber mir wurde relativ schnell bewusst, dass ich das Leben so annehmen muss, wie es ist, und es sich nicht lohnt, diese Frage weiter zu stellen.
Wann stellten sich die ersten Erfolge in der Leichtathletik ein?
Schäfer: Das war 2012 bei einer U-23-WM in Tschechien. Da habe ich im Weitsprung Gold gewonnen und im 100-Meter-Lauf Silber. 2013 holte ich dann bei der U-23-WM in Puerto Rico Gold, Silber und zweimal Bronze. Das ist alles noch sehr präsent.
Ein unglaublicher Coup ist Ihnen am 25. Juli 2019 gelungen. Wie verlief der Tag, an dem Sie Ihren Weltrekord im Weitsprung auf 6,99 Meter verbessert haben?
Schäfer: Das war ein besonderer Tag, denn meine Schwester und mein jüngerer Bruder waren zu Besuch in Leverkusen. Da wollte ich unbedingt abliefern. Mir hat in die Karten gespielt, dass der Wettkampf erst um 18.30 Uhr begonnen hat, denn ich schlafe gerne länger. Das Wetter war gut, die Atmosphäre war gut, es hat einfach alles gepasst. Und ich wusste, dass ich nur das Brett treffen muss, um zu fliegen. Aber der Sprung hat sich dann gar nicht so gut angefühlt. (lacht) Ich war natürlich trotzdem sehr happy.
Wenige Monate später sorgten Sie mit der Goldmedaille bei der WM in Dubai im Weitsprung für den nächsten Paukenschlag. Welche Erinnerungen sind an diesen Tag präsent?
Schäfer: Der Wettkampf war auch am Abend. Und wie schon erwähnt, ist das gut für mich. Ich habe mich mental lange auf den Wettkampf, die Abläufe, vorbereitet. Drei Stunden vorher ging es los ins Stadion. Ich habe mich mit meiner Musik warmgemacht und war im Fokus. Ich war heiß, hatte Bock und wollte weit springen. Mit dem ersten Satz auf 6,90 Meter wusste ich, dass es mein Tag wird.
Welche Ziele haben Sie jetzt noch im Sport?
Schäfer: Ich bin so ehrgeizig, dass ich immer mehr will. Und ich weiß, dass ich mehr kann. Im Weitsprung will ich schon über die sieben Meter springen.
Eine wichtige Person für Sie ist Heinrich Popow, Ihr Mentor. Er hat selbst zwei Mal Gold bei Paralympischen Spielen gewonnen. Welche Beziehung haben Sie zu ihm?
Schäfer: Eine sehr enge. Gleich beim ersten Treffen hat es gefunkt. (lacht) Dadurch, dass wir dasselbe Schicksal erlitten haben, stimmte gleich die Chemie. Er ist mein Mentor und fasst schon so etwas wie ein großer Bruder für mich. Ich habe viel von ihm gelernt und lerne immer noch, egal ob beim Sport oder im Privatleben. Er hat immer einen guten Rat für mich.
Was lernen Sie konkret von ihm?
Schäfer: Beispielsweise, dass man immer auf dem Boden bleiben soll. Das ist sein Motto. Und ich übernehme von ihm die Professionalität, den Sport zu leben.
Wie wichtig ist es grundsätzlich, ein Idol und Vorbild zu haben?
Schäfer: Sehr wichtig. Es motiviert, wenn man jemanden hat, zudem man aufschauen kann. Das inspiriert und treibt an. Und bei mir ist es mit Heinrich sogar so, dass ich mir immer Rat holen kann.
Was schätzen Sie noch an ihm?
Schäfer: Heinrich hat eine Art Drang, anderen Menschen zu helfen. Das gibt ihm Kraft. Und das ist immer mehr auch mein Ansporn. Es fühlt sich gut an, wenn Fans schreiben, dass ich Ihnen Mut mache und Kraft schenke. Ich möchte meine Story mit den Menschen teilen, um Ihnen zu helfen, Hindernisse zu überwinden und sich treu zu bleiben.
Gibt es Beispiele, anhand derer Sie gemerkt haben, dass Sie etwas bewegen können?
Schäfer: Mir hat eine Frau geschrieben, die nichts mit mir und meinem Sport zu tun hat, dass sie ihren Partner letztes Jahr verloren hat und nun das Leben mit ihren zwei kleinen Kindern allein meistern muss. Und meine Geschichte hat Ihr Kraft und Mut gegeben, das alles durchzustehen.
Welche Message haben Sie für die Menschen?
Schäfer: Egal welche Rückschläge man erleidet, egal ob persönlich oder im Familien- und Freundeskreis, sollte man immer versuchen, positiv nach vorne zu blicken. Man kann daraus immer Stärke für sich ziehen.