"Gas, Gas, GAS!" Das Schreien des Instruktors dröhnt in den Lautsprechern des BMW M3. 420 PS heulen auf, die Nadel des Drehzahlmessers ist jenseits der 6000. Der Sportwagen steht quer, verdammt quer. Und mit jedem "Gas"-Schrei wird der Driftwinkel bedenklicher.
Spikes krallen sich ins blanke Eis und sorgen dafür, dass der Abflug in den Schnee am Rande der Strecke ausbleibt. Ich halte den Drift durch, über mehrere hundert Meter. Ein gigantisches Gefühl, ich bin wie Sebastien Loeb - zumindest für Arme.
Drei Tage hat es gedauert, bis alles da war. Der Mut, voll aufs Gas zu steigen, um den Drift einzuleiten. Das Gefühl, um gerade so viel am Lenkrad zu kurbeln und am Gaspedal zu spielen, dass das Auto im Drift bleibt, sich aber nicht dreht. Das Selbstvertrauen, einen Sportwagen am Limit bewegen zu können.
3000 Einwohner, 8720 Seen
"In den kommenden Tagen werdet Ihr das Limit von beiden Seiten kennen lernen." So lautet die Ankündigung von Fritz Lanio, dem Leiter der Fahrinstruktoren der BMW Driving Experience. Es ist das erste Briefing nach der Ankunft in Arjeplog, einer 3000-Seelen-Kommune in Nordschweden, zirka 60 Kilometer südlich des Polarkreises.
8720 Seen gibt es in der viertgrößten Kommune Schwedens, die allerdings nur die drittwenigsten Einwohner hat. Viel Platz für wenige Menschen also. "Wir haben für jeden Einzelnen einen eigenen See", scherzt die Bürgermeisterin von Arjeplog, Britta Flinkfeldt-Jansson.
Test-Mekka für BMW, Mercedes und Co.
Viele dieser Seen werden für das genutzt, wofür Arjeplog in der Automobilszene berühmt ist - Testfahrten. Fast alle großen Fahrzeug-Hersteller nutzen die polaren Winter, um all ihre Modelle bei eisiger Kälte auf Herz und Nieren zu prüfen. Mercedes ist ebenso dabei wie VW, Porsche, Audi und eben auch BMW. Bei den Bayern geht kein einziges Fahrzeugteil in Serie, das nicht in Arjeplog auf einem der unzähligen Eisseen getestet wurde.
Bis zu 240 Ingenieure und Tester sind in den Wintermonaten von Oktober bis Ostern vor Ort. Sie betreiben das Hauptgeschäft der Hersteller, aber sie bekommen zwischen Mitte Januar und Anfang April Gesellschaft von den Instruktoren der Driving Experience.
Der Job von Lanio und seinen Kollegen ist es, in der Regel zahlungskräftigen Kunden im Rahmen von Kursen das Fahren auf Eis und Schnee beizubringen. Allerdings weniger das vorsichtige Fahren, das man aus deutschen Großstädten beim ersten Wintereinbruch kennt, sondern eher die wildere Variante für Draufgänger.
Schmankerl für Wintersportstars
Und von denen sind diesmal sehr viele dabei. Denn Ende März lässt BMW nicht wie üblich Kunden aus Europa, den USA, Russland oder China auf die PS-Monster los, sondern die Stars aus Biathlon, Bob- und Rodelsport.
Biathlon-Legende Sven Fischer greift ebenso ins Lenkrad wie Rodel-Olympiasieger und -Weltmeister Felix Loch, Bob-Weltmeister Manuel Machata, Bob-Olympiasieger Steven Holcomb und viele andere Stars der Szene.
Es ist ein Schmakerl zum Saisonabschluss, das Sponsor BMW den Besten der Wintersportsaison gönnt. Und die genießen den Spaß. Klar, sie haben die Geschwindigkeit im Blut und Eis und Schnee sind ihr tägliches Brot.
100.000-Euro-Autos mit abgerissenen Stoßstangen
Entsprechend fahren sie auch. "Unsere normalen Kunden sind in der Regel vorsichtiger im Umgang mit den Autos als die Sportler", gibt Robert Eichlinger, der Leiter der Driving Experience zu. Ohne Rücksicht auf Verluste heizen die Sportler über die Eispisten. Sie fahren sehr gut und spektakulär, aber sie fliegen auch regelmäßig ab - abgerissene Stoßstangen und eingedrückte Kotflügel inklusive.
"Wo gehobelt wird, fallen Späne", nimmt Eichlinger die Schäden an den mehr als 100.000 Euro teuren Autos sehr gelassen, obwohl die nur haftpflichtversichert sind. Von Vollkasko will hier niemand etwas wissen.
Peinlichkeit gleich zu Beginn
Ich übrigens auch nicht. Der Wagemut der Wintersportler steckt nämlich sehr schnell an. Nach wenigen vorsichtigen Einrollrunden mit dem 420-PS-Monster siegt der Ehrgeiz über die Vernunft. Die Drifts, die ein Felix Loch fahren kann, muss ich doch auch fahren können!
Kann ich zunächst nicht und drehe mich prompt schon bei einer der ersten ernsthaften Übungen in den harten tiefen Schnee am Rande der geräumten Eispiste. Der Abschleppwagen muss her und mich aus meiner peinlichen Lage befreien. Die eine Seite des von Lanio angesprochenen Limits hätte ich also schon einmal kennen gelernt. Es war nur die falsche.
Spengler: "Manchmal hast du Angst"
Auf der richtigen Seite des Limits bewegen sich über die kompletten drei Tage die DTM-Piloten Martin Tomczyk und Bruno Spengler. Wenige Wochen vor ihrem DTM-Debüt für BMW sind sie als Edel-Fahrlehrer in Schweden dabei. Um den Schülern aus Sport und Journaille etwas beizubringen - und sie sicher auch in einem unbeobachteten Moment mal auszulachen.
"Ich finde es sehr interessant, Leute, die nicht so viel Motorsport-Erfahrung haben, hierher zu bringen und ihnen zu zeigen, was so ein Auto kann", sagt Spengler. Er hat sich sowohl als Taxifahrer im so genannten Ice-Racer, einem M3 mit besonders schmalen Reifen und langen Spikes, als auch als Beifahrer und Fahrlehrer betätigt.
Seine Erfahrung? "Manchmal hast du Angst", lacht er und fügt hinzu: "Es ist interessant zu sehen, wer aggressiv rangeht und wer sich erst einmal vorsichtig herantastet. Aber es hören alle genau auf unsere Tipps und versuchen sie umzusetzen. Ich mag es zu sehen, was Leute in so kurzer Zeit lernen wollen und können."
Spielplatz für große Jungs und Mädels
Lernen ist ein gutes Stichwort. Auch ich tue das. Trotz einiger weiterer Ausflüge in den Tiefschnee wird das Driften immer mehr zur Routine. Als mir dann ein 360-Grad-Dreher bei 70 km/h perfekt gelingt, ist der Bann gebrochen.
Der Instruktor jubelt mir über Funk zu, ich ertappe mich dabei, dass ich breit grinsend die Faust balle. Seien wir ehrlich, es ist ein Spielplatz für große Jungs und Mädels, die drei Tage lang nicht erwachsen zu sein brauchen.
Tests verdrängen Fischfang und Rentierjagd
Als der Spaß vorbei ist, kehrt Ruhe ein in Arjeplog. Nach Ostern, wenn alle Autokonzerne ihre Zelte abbrechen, wird es für einige Monate recht einsam werden rund um die Seen. Fischfang und Rentierjagd werden wieder etwas mehr von der Beachtung erfahren, die sie vor der Invasion der Autos hatten.
Heute leben 700 der 3000 Einwohner von Arjeplog direkt oder indirekt von den Autotests. Sie empfangen BMW, Mercedes und Co. mit offenen Armen. Auch im kommenden Winter wieder, wenn die wilde Drift-Saison aufs Neue beginnt.
Der DTM-Rennkalender 2012