"Am Ende war es Mann gegen Mann. Marcel ist superstark, aber ich bin taktisch klug gefahren", sagte Greipel (Lotto-Soudal), der in der Stunde des Triumphes auch an seinen im Koma liegenden belgischen Teamkollegen Stig Broeckx dachte: "Ich bin emotional, ich kann das nicht verdrängen. Die Gedanken sind sehr oft bei Stig." Broeckx war bei der Belgien-Rundfahrt Ende Mai mit einem Begleitmotorrad zusammengestoßen und erlitt schwere Hirnverletzungen.
Der Thüringer Kittel (28) musste sich bei der Meisterschaft vor seiner Haustür sogar mit Rang drei zufrieden geben und kassierte knapp eine Woche vor dem Beginn der 103. Frankreich-Rundfahrt eine unerwartete Niederlage. Platz zwei ging an den 23-jährigen Max Walscheid vom Team Giant-Alpecin. "Die Enttäuschung ist auf jeden Fall groß, aber so ist es halt. Vielleicht gibt es ja einen Meisterschaftsfluch bei mir", sagte Kittel.
"Er war bärenstark"
Der Profi vom Team Etixx-Quick Step hatte den Sprint im Finale verzögern müssen und verlor dabei gegen den cleveren Greipel zu viel Boden. "Ich musste zweimal antreten, da war der Keks gegessen", sagte Kittel. Geschlagen ließ der achtmalige Tour-Etappensieger die Beine hängen und wurde auch von Walscheid noch passiert. Zuvor hatte Kittels Etixx-Teamkollege Tony Martin viel investiert, um das Tempo im Peloton hochzuhalten und entscheidende Attacken zu verhindern. "Tony ist ein Rennen für Zehn gefahren, er war bärenstark", sagte Kittel.
Für Kittel und Greipel wird es am kommenden Samstag zum Tour-Auftakt ernst. Die erste Etappe vom Mont-Saint-Michel zum Utah Beach in der Normandie ist flach und liegt den deutschen Top-Fahrern. Dort kämpfen Kittel und Greipel auch um das erste Gelbe Trikot der 103. Großen Schleife.
Der wiedererstarkte Kittel könnte dort zum dritten Mal nach 2013 und 2014, der seit Jahren konstante Greipel zum ersten Mal das begehrte "Maillot jaune" überstreifen. "Die Tour ist ein anderes Rennen, aber meine Form ist gut. Ich bin auf dem richtigen Weg", sagte Greipel. Genügend Selbstvertrauen dürfte er nun auch haben.
Kittel hatte die Favoritenrolle schon vor der Niederlage ein wenig von sich geschoben. "Ich möchte den Druck ein bisschen weghalten und kein überzogenes Ziel ausgeben", sagte er am Rande der DM. Für den gebürtigen Arnstädter war eigentlich alles angerichtet, zumal auch der Kurs auf ihn zugeschnitten war.
Degenkolb lässt Walscheid den Vortritt
Der 28-Jährige pokerte bis in die Schlussphase, während sein Hauptkonkurrent Greipel, der in Marcel Sieberg ebenfalls nur einen Lotto-Begleiter dabei hatte, zwischenzeitlich in einer Spitzengruppe vertreten war. "Mir sind gleich die Tränen gekommen, so ein Meistertitel ist immer etwas Besonderes", sagte Sieberg nach dem Triumph seines Kapitäns.
Einen klassischen Massensprint verhindern wollte eigentlich auch John Degenkolb, der letztlich dem jungen Walscheid den Vortritt ließ. Walscheid war mit Degenkolb in den furchtbaren Trainingsunfall im Januar verwickelt gewesen und hatte dabei einen Schienbeinbruch erlitten. "Ich freu mich riesig, die Tendenz ging zuletzt schon nach oben", sagte Walscheid.
Für Bewegung im Rennen gesorgt hatte immer wieder die auch zahlenmäßig starke Bora-Mannschaft um Titelverteidiger und Klettertalent Emanuel Buchmann, dem die Strecke nicht lag und der auch nichts ausrichten konnte. Der Jubel in Erfurt gehörte Greipel.