Tony Martin hatte seinem Körper noch einmal alles abverlangt. Mit hohem Puls schnappte der deutsche Radprofi im Ziel nach Luft und hielt sich auf dem Boden liegend völlig erschöpft die Hände vors Gesicht. Im letzten Einzelzeitfahren der Karriere war Vollgas die einzige Option.
Zum Auftakt der WM in Belgien, dem finalen Wettkampf seiner erfolgreichen Laufbahn, belegte der viermalige Weltmeister am Sonntag in 49:05 Minuten einen starken sechsten Platz.
"Auf der Startrampe kamen kurzzeitig die Emotionen hoch, da hat es mich ein, zwei Sekunden übermannt. Dann habe ich mich wieder fokussiert und vor allem gegen mich selbst gekämpft", sagte Martin, "es war ein extrem langes Rennen und hat noch einmal abverlangt. Ich bin zufrieden, habe das Rennen genossen."
Das Regenbogentrikot sicherte sich Titelverteidiger Filippo Ganna (47:47). Der Italiener verwies die Belgier Wout Van Aert (+0:05 Minuten) und Remco Evenepoel (+0:43) auf die Plätze. Der zweite deutsche Starter Max Walscheid (Neuwied/+ 1:53 Minuten) wurde Elfter.
Am Mittwoch startet Martin noch mit der Mixed-Staffel. Danach ist Schluss. Der deutsche Radsport verliert eine seiner wichtigsten Persönlichkeiten. "Eine solch weitreichende Entscheidung fällt mir natürlich nicht leicht. Der Radsport hat den Großteil meines bisherigen Lebens geprägt. Mit Höhen und Tiefen, großen Erfolgen und Niederlagen, Stürzen und Comebacks", sagte Martin.
Um 15.51 Uhr hatte der 36-Jährige das 43,3 km lange Zeitfahren von Knokke-Heist nach Brügge in Angriff genommen. Es war die perfekte Bühne für den Abschied. "Auf dem Papier sollte es eine Tony-Martin-Strecke sein", hatte er dem SID im Vorfeld gesagt.
Flache und lange Rennen gegen die Uhr waren seit jeher seine Spezialität. Über Jahre war Martin - Spitzname "Panzerwagen" - der weltweit dominante Fahrer auf diesem Terrain, wurde vier Mal Weltmeister (2011 bis 2013, 2016). 2012 wurde er in London Olympiazweiter. Bei den deutschen Meisterschaften triumphierte er zehn Mal.
Tony Martin: Risiko ist nach Stürzen zu groß
Doch die Jahre haben Spuren hinterlassen. In den letzten Monaten habe er vermehrt an die Zeit nach dem Radsport gedacht: "Dazu haben auch die schweren Stürze in dieser Saison beigetragen, nach denen ich mir die Frage gestellt habe, ob ich das Risiko, welches unser Sport mit sich bringt, weiterhin bereit bin einzugehen."
Martin war bei der Frankreich-Rundfahrt im Juli nicht zum ersten Mal schwer zu Fall gekommen und hatte die Tour vorzeitig beenden müssen. Sein Comeback gab er zuletzt bei der Tour of Britain, die er mit Blick auf das WM-Zeitfahren vorzeitig verließ.
Das Risiko erachtete er nun als zu groß. Er habe für sich entschieden, "dass ich dies nicht mehr will, zumal sich, trotz vieler Diskussionen um Streckenführungen und Absperrungen, die Sicherheit in Radrennen nicht verbessert hat", sagte Martin.
Seinen Vertrag für 2022 bei Jumbo-Visma wird er in Absprache mit der Teamleitung nicht erfüllen. Die Gespräche über das Karriereende fanden bereits nach der Großen Schleife statt.
In seinen sportlich besten Phase war Martin stets ein Siegfahrer, der nicht nur auf dem Zeitfahrrad Erfolge feierte. Bei der Tour gelangen ihm insgesamt fünf Etappensiege, 2015 trug er vorübergehend das Gelbe Trikot. Seine Vita schmücken zudem Gesamtsiege bei Paris-Nizza und der Algarve-Rundfahrt.
In den letzten Jahren änderte sich Martins Rolle. Seine Leidensfähigkeit, sein Wille und seine Erfahrung machten ihn als Helfer für Klassementfahrer wie Primoz Roglic unerlässlich. Martins Einfluss im gesamten Peloton war unbestritten. Das Wort des Wahl-Schweizers hatte Gewicht. Als Kritiker und Mahner für bessere Sicherheitsvorkehrungen hatte sich Martin einen Ruf erarbeitet.