SPOX: Freuen Sie sich auf die Tour oder ist das Rennen nach so vielen Jahren für Sie nichts Besonderes mehr?
Jens Voigt: Ich bin immer wieder von Neuem aufgeregt. Es ist der Saison-Höhepunkt, auf den man hinarbeitet und für den man versucht, sich in der perfekten Form zu präsentieren. Es ist nach wie vor das schönste Rennen, das wir im Kalender haben.
SPOX: Was macht für Sie die Faszination der Tour aus?
Voigt: Ich bin auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen und die Tour war das einzige Rennen, dass bei uns in der DDR bekannt war. Als die Mauer fiel, war für mich das Größte auf der Welt, einmal die Tour zu fahren. Schon davor war ich von diesem Virus infiziert. Aber wenn man diesen Gigantismus einmal miterlebt, ist man sofort fasziniert: Die Größe der Werbekolonne, die Millionen Fans an der Strecke, die Fernsehübertragung in unzählige Länder, die schiere Länge des Rennens... Am Ende dreht man in Paris noch eine Ehrenrunde - alle Fans harren geduldig aus und bejubeln die Überlebenden des Rennens. Nach drei Wochen des Stresses und der Anstrengung, wo jeder Meter mit voller Konzentration gefahren wird und jeden Meter ein Sturz passieren kann, sind diese Momente es wert, sich die drei Wochen nach Paris durchgekämpft zu haben.
SPOX: Am Ende der Tour steigt also ein großes Fest?
Voigt: Es gibt definitiv eine kleine Abschiedsparty. Da trinke ich ein oder zwei Bier und lasse den Nichtsportler heraushängen. Denn in den vier Wochen gemeinsam mit den Jungs kommt man sich fast kaserniert vor. Das ist auch nötig, um den Sport professionell ausüben zu können, aber nach der Zeit will man etwas über die Stränge schlagen. Ich schwinge das Tanzbein und esse keine Pasta, sondern etwas Ungesundes, das aber schmeckt.
SPOX: Worauf freuen Sie sich bei der Tour am meisten?
Voigt: Darauf, dass es endlich losgeht. Die Woche vor dem Start bin ich bereits vor Ort, führe viele Pressegespräche, habe Sponsorentreffen und Interviews und am Ende fühle ich mich wie eine Feder unter Spannung: Ich will endlich losfahren und das machen, was ich am besten kann: Auf dem Rad sitzen und strampeln. Der Prolog ist dann wie ein Befreiungsschlag.
SPOX: Wen zählen Sie dieses Jahr in den engeren Favoritenkreis?
Voigt: Ich bin kein großer Prophet, wenn ich auf Contador als möglichen Tour-Sieger tippe. Danach kommen einige, die auf das Podest fahren können: Die Schleck-Brüder, Cadel Evans, Roman Kreuziger, Lance Armstrong oder ein Überraschungsei, das man nicht auf der Rechnung hat. Doch sie alle können Contador nur schlagen, wenn es für sie perfekt läuft, denn er fährt in seiner eigenen Kategorie: Er ist ein perfekter Zeitfahrer, ein exzellenter Bergfahrer und auch auf den Flachetappen verliert er keine Zeit.
SPOX: Was trauen Sie denn speziell Lance Armstrong zu?
Voigt: Das ist unmöglich zu sagen. Ich entscheide mich zehnmal am Tag um. Manchmal denke ich, er ist in Topform und manchmal streiche ich ihn von der Liste der möglichen Toursieger.
SPOX: Ihm muss man alles zutrauen...
Voigt: Völlig richtig. Wenn man was gelernt hat, dann das. Vor allem kann Lance seine Topform über Wochen konservieren und weiß immer sehr genau, was er tut. Er ist nur einen Tag jünger als ich, aber ich könnte seine Leistung nicht bringen. Wenn er die Tour noch einmal gewinnt, ziehe ich den Hut vor ihm.
SPOX: Hätten Sie gern das Potential von Lance Armstrong?
Voigt: Natürlich träume ich davon. Ich würde auch gern mit Andy Schleck tauschen. Er ist wahnsinnig talentiert. Ich denke zwar manchmal tatsächlich darüber nach und wahrscheinlich hätte ich mit einem größeren Potential auch einen höheren Kontostand, aber sicherlich auch mehr Stress als jetzt. So lebe ich zumindest sehr glücklich und stressfrei.
SPOX: Sie haben Andy Schleck angesprochen. Halten Sie ihn für den talentierteren der beiden Brüder?
Voigt: Am Talent kann ich es gar nicht festmachen. Er ist jünger und unbekümmerter, trifft mehr Bauchentscheidungen und hat eine LMA-Stimmung. Fränky ist älter, bewusster und rechnet gerne jede Wattzahl aus. Beide zusammen sind unschlagbar. Andy ist besser in Etappenfahrten und im Zeitfahren und Fränky liegen die Eintagesrennen mehr. Die meisten erwarten also Andy auf dem Podest.
SPOX: Für Fränk Schleck ist es kein Problem, seinem Bruder den Vortritt zu lassen?
Voigt: Die beiden verstehen sich total gut und würden nie in verschiedenen Teams fahren. Es gibt sie nur im Doppelpack. Klar streiten sie sich manchmal. Wenn sie in den Luxemburger Dialekt wechseln, weiß ich, dass der eine auf den anderen sauer ist. Fränky lässt gerne den älteren Bruder raushängen und will erklären, wie das Leben funktioniert und das gefällt Andy überhaupt nicht. Ich verstehe nur jedes zweite Wort, finde es aber irre unterhaltsam. Aber sie streiten nicht ernsthaft - es sind nicht nur Brüder, sondern auch die besten Freunde. Und dieses Jahr können die beiden einiges reißen.
SPOX: Vor kurzem wurde bekannt, dass die beiden das Team nach der Saison verlassen. Ein Nachteil für die kommenden drei Wochen?
Voigt: Das wird keine Auswirkungen auf unsere Vorstellung bei der Tour haben. Wir sind seit langer Zeit eine eingeschworene Truppe und werden weiter an einem Strang ziehen, um einen von beiden ganz nach oben aufs Podium zu bringen.
RCP Competition Race Sattel - Jetzt bei fahrrad.de bestellen!
SPOX: Was sind Ihre Ziele auf dieser Tour?
Voigt: Ich sehe mich in der Rolle des Helfers für einen jüngeren Fahrer. Wenn ich in Paris ankomme und die Mannschaft sagt: "Mensch, Jens, wir waren froh, dass wir dich dabei hatten", dann bin ich zufrieden. Ich hatte genug Zeit, mich auszutoben und meine Leistungsfähigkeiten auszuloten. Wenn sich aber die Chance auf ein Trikot oder Etappensieg bietet, sage ich nicht Nein.
SPOX: Wir sehen Sie also diesmal nicht auf einer Ihren berühmten Ausreißertouren?
Voigt: (lacht) Nein, die Rollen sind nun anders verteilt. Früher konnte ich auf eigene Rechnung fahren und versuchen, eine Etappe zu gewinnen. Mittlerweile aber haben wir Fahrer, die Chancen auf einen Toursieg haben. Also muss ich die eigenen Ambitionen zurückstellen und ihnen helfen. Das ist fair, denn ich hatte genug Zeit, mich auszutoben. Am Ende des Jahres muss es eine Balance zwischen Geben und Nehmen sein und das klappt bei uns im Team sehr gut.
SPOX: Sie beeindrucken die Zuschauer und Fans durch Ihren unbedingten Siegeswillen, spulten oft Kilometer für Kilometer alleine vor dem Feld ab - woher nehmen Sie die Motivation?
Voigt: Das ist wahrscheinlich mein genetischer Code. Ich habe schon als kleines Kind im Sportunterricht der Schule gern gewonnen und es macht süchtig. Wenn man Erfolg hat, dann will man immer mehr. Es sind diese wenigen, kostbaren Momente, in denen du eins mit dem Universum bist. Dafür lebt man, dafür arbeitet man. Sie entschädigen einen für das Leiden, für das Training bei Minusgraden im Winter, für die ganze Quälerei.
SPOX: Wo sind Ihre persönlichen Grenzen?
Voigt: Ich kann nicht zwei, drei Tage hintereinander im Hochgebirge fahren. Einen Tag schaffe ich noch mit viel Willenskraft - aber das rächt sich auf der nächsten Etappe. Mehrere Tage hintereinander im Gebirge sind mein Ende. Auch das Gedrängel im Fahrerfeld mag ich nicht. Ich habe Frau und Kinder und möchte nicht, dass mir etwas passiert. Da fehlt mir die jugendliche Unbekümmertheit, mit der man denkt, man sei gepanzert und unverwundbar.
SPOX: Verflucht man seinen Job nicht manchmal, wenn man sich so quält?
Voigt: Natürlich. Es gibt Tage, da bist du abgehängt und hast noch viele Kilometer zu fahren. Du weißt nicht mehr, wie du diesen Berg noch hochkommen sollst und du weißt, dass das gleiche morgen wieder auf dem Programm steht. Da denkst du dir "Warum zum Geier mache ich das überhaupt? Das schaffe ich nie im Leben, ich bin am Ende". Oder du liegst auf der Nase, bist blutverschmiert und denkst dir: "Muss ich überhaupt wieder aufstehen oder kann ich jetzt hier einfach liegen bleiben?" Aber man fährt dann doch immer weiter und kämpft, bis es nicht mehr geht. Aufgeben gilt nicht.
SPOX: Sie sind letztes Jahr schwer gestürzt. Dachten Sie damals ans Aufhören?
Voigt: Der Gedanke kommt zwangsläufig, aber nicht in dem Moment. Manchmal bin ich sehr trotzig und hartnäckig. Für mich war noch am selben Tag im Krankenbett klar, dass ich so nicht aufhöre. Das Schicksal sollte nicht für mich entscheiden, wann mit dem Radfahren Schluss ist. Ich möchte mein Karriere-Ende selbst in der Hand haben.
SPOX: Sie sind inzwischen 38 Jahre alt - woher nehmen Sie die Energie?
Voigt: Ich habe zuhause fünf Kinder. Radfahren ist für mich die reinste Erholung, verglichen mit dem Familienleben. Beim Fahrradfahren ist es so: Du steigst auf das Rad, strampelst bis du nicht mehr kannst, kommst durch das Ziel und dein Job ist beendet. Zuhause fängt dein Job um 6.30 Uhr an und hört erst um 22.30 Uhr auf.
SPOX: Sie schaffen es immer wieder ins Team - trotz nachrückender junger Talente. Wie groß ist die Bestätigung? Wundern Sie sich manchmal selbst?
Voigt: Eine zeitlang habe ich mich gewundert, aber inzwischen habe ich den Schlüssel des Geheimnisses gefunden: Die jüngere Generation ist mit zu wenig zufrieden. Das Leben ist relativ einfach für sie, denn sie kriegen schnell einen Vertrag, verdienen gutes Geld, können ihr Auto bezahlen und sind glücklich. Aber der Radsport ist eine Fleißaufgabe - Disziplin und Hingabe sind ganz wichtige Charaktereigenschaften. Nicht jeder fährt im November bei Nieselregen fünf Stunden Rad. Aber diese fünf Stunden hast du den anderen, die zu bequem dafür sind, voraus. Also weißt du genau, dass du an dem Tag mehr gemacht hast, als alle anderen. Nicht jeder nimmt den Sport so ernst wie ich und nicht jeder hat einen so starken Drang zu gewinnen.
SPOX: Haben Sie schon einmal ans Aufhören gedacht?
Voigt: Es wird nicht leichter. In meinen besten Jahren habe ich zehn Rennen gewonnen, jetzt bin ich nur noch bei einem oder zwei ganz vorne. Aber es macht mir noch Spaß. Der Moment aufzuhören ist dann, wenn man es nur noch für das Geld macht. Da wird man vom passionierten Sportler zum Söldner. Aber soweit ist es noch nicht. Ich will das Gefühl haben, dem Sport alles gegeben zu haben und umgekehrt. Ich will das Kapitel in Ruhe abschließen, die Seite im Buch des Lebens umblättern und eine neue Seite aufschlagen. Aber ich kann mir gut vorstellen, noch ein Jahr dranzuhängen.