Im Krankenhausbett begann sich Tony Martin nach dem schmerzhaften Tour-Aus langsam zu erholen. Die strapaziöse Nacht samt Flugreise nach Hamburg und Operation am gebrochenen Schlüsselbein kurierte der deutsche Radprofi mit einer großen Portion Schlaf aus, die Moral stärkte die Aussicht auf ein Eis und die baldige Rückkehr ins Training.
Vorausgegangen war eine zwölfstündige Odyssee, die mit dem schweren Sturz in der sechsten Tour-de-France-Etappe am Donnerstag ihren Anfang nahm und nach dem Eingriff im Hamburger BG-Unfallkrankenhaus gegen 05.00 Uhr am Freitagmorgen ihr Ende fand. "Alles ist wie geplant und gut gelaufen", sagte Teamarzt Helge Riepenhof von Martins Quick-Step-Mannschaft dem SID.
Fahrradfahren und Eis essen
In einer rund 70-minütigen Operation war die zertrümmerte Knochenpartie rekonstruiert und mit einer Titanplatte fixiert worden. Martin steht nun ein rund einwöchiger Klinikaufenthalt bevor. Dabei geht es vor allem darum, eine mögliche Infektion der betroffenen Stelle zu verhindern. "Tony bleibt, bis die Entzündungsparameter in Ordnung sind", sagte Riepenhof.
Im Anschluss soll Martin bereits wieder auf der Rolle trainieren können. "Tony denkt meistens eigentlich an zwei Sachen: Fahrradfahren und Eis essen", sagte Riepenhof. Wenn in sechs Wochen die Platte in einem kleinen zweiten Eingriff entfernt worden ist, dürfte er wieder voll einsatzbereit sein.
Neben dem Etappensieg seines tschechischen Teamkollegen und guten Freundes Zdenek Stybar war das für Martin die beste Nachricht eines ansonsten unglücklichen Tages. Mit zwei großen Zielen war er in die Saison 2015 gestartet. Das bereits für den Tour-Auftakt erhoffte Gelbe Trikot sicherte er sich mit Verspätung, der Gewinn des vierten WM-Titels im Einzelzeitfahren ist trotz der schweren Verletzung weiterhin möglich.
Noch am Donnerstag, als Martin in einem kleinen Nebenraum des Hôtel de Lion d'Or offiziell seinen Ausstieg aus der Frankreich-Rundfahrt verkündete, richtete er den Blick optimistisch auf das verbleibende Ziel. "Dem Projekt Weltmeisterschaft sollte der Sturz keine größeren Brocken in den Weg geworfen haben", sagte Martin mit Blick auf die Titelkämpfe in Richmond/Virginia (19. bis 27. September).
Froome zollt Respekt
Dass Martin ein Meister des Wiederaufstehens ist, hat er zigfach bewiesen. 2012 brach er sich auf der ersten Tour-Etappe das Kahnbein, holte nur wenige Wochen darauf Olympia-Silber in London und später seinen zweiten Weltmeistertitel. Im Jahr darauf erholte Martin sich von einem üblen Sturz beim Grand Départ so schnell, dass er immerhin noch einen Etappensieg schaffte.
Diesmal wird ihm Gelb gewiss als Trostpflaster helfen, bis zur WM wird neben den körperlichen Beschwerden auch die Enttäuschung verflogen sein. "Ich hätte mir ein verbindlicheres Ende und vielleicht auch noch ein paar mehr Tage in Gelb gewünscht. Alles in allem muss ich aber ein positives Resümee ziehen", sagte Martin: "Ich werde über den Tag hinwegkommen."
Der Verlauf der Frankreich-Rundfahrt glich einer "Achterbahn der Gefühle", wie er selbst sagte. Drei unglücklich verpassten Chancen auf das Maillot jaune folgte ein spektakulärer Etappensieg in Cambrai, durch den Martin sich erstmals das begehrte Stück Stoff sicherte. "Solche Geschichten kann nur die Tour de France schreiben", so der 30-Jährige.
Martin fuhr spätestens bei der Tour 2015 in die Herzen der Fans und verschaffte sich auch bei seinen Kollegen Respekt. Der Brite Christopher Froome (Sky), der nach Martins Aus die Gesamtführung übernahm und in zwei Wochen auch in Paris ganz oben stehen will, verzichtete auf der siebten Etappe auf das Tragen des Gelben Trikots.