Nach der ersten Enttäuschung über sein Silberrennen wollte Paul Biedermann im Teamhotel doch noch "den ein oder anderen Freudensprung" machen. Aber dafür dürfte dem Schwimmstar die Kraft gefehlt haben. "Stehend k.o." sei Biedermann gewesen, verriet Henning Lambertz, und dann gab der Bundestrainer den Startverzicht seines Vorschwimmers über 100 m Freistil am Donnerstag bekannt: "Das Team hat für ihn Vorrang."
Statt auf seiner Nebenstrecke um die minimale Medaillenchance zu kämpfen, will Biedermann seine letzten Kräfte für die aussichtsreichen Staffeln über 4x200 m Freistil (Samstag) und 4x100 m Lagen (Sonntag) mobilisieren. Das hatte der Weltrekordler bereits nach seiner knapp verpassten Goldmedaille über 200 m Freistil am Mittwochabend angedeutet.
"Stelle mich in Dienst der Mannschaft"
"Ich stelle mich jetzt ganz in den Dienst der Mannschaft. Da muss man sehen, was dem Team nützt, und wo man sich sinnlos zerschießt", sagte der Doppel-Weltmeister von 2009. In der 100-m-Europarangliste belegte der Hallenser mit seinen bei der DM Anfang Mai geschwommenen 48,31 Sekunden zwar den dritten Rang, ein Podestplatz wäre dennoch nur schwer zu erreichen gewesen. Biedermanns Regeneration sei "langsamer verlaufen als gehofft", verriet Bundestrainer Lambertz.
Durch die dreiwöchige Trainingspause wegen einer Erkrankung fehlen Biedermann noch ein paar Körner. Das bewies auch das 200-m-Finale, als der lange Zeit führende Biedermann mit dem letzten Armzug noch vom Serben Velimir Stjepanovic abgefangen wurde.
Freundin Britta Steffen war trotzdem mächtig stolz. "Paul war einfach nur bravourös", schwärmte die Doppel-Olympiasiegerin von 2008: "Das war ein hammergeiles Rennen! Es hat weniger als ein halbes Streichholz gefehlt."
Freude über Medaille getrübt
Unmittelbar nach dem Anschlag wirkte der entthronte Titelverteidiger allerdings ähnlich fassungslos wie nach seinem verbummelten Vorlauf-Aus über die doppelte Distanz zum EM-Auftakt. Mit ein wenig Abstand konnte er sich über seine erste internationale Langbahn-Medaille seit 816 Tagen aber doch noch freuen.
"Je länger das Rennen her ist, desto zufriedener bin ich", sagte Biedermann: "Ich freue mich über die Zeit. Stjepanovic ist die letzten Meter geflogen." Dass er seinen großen Rivalen, den Doppel-Olympiasieger Yannick Agnel (Frankreich), auf Platz drei verdängte, dürfte Biedermanns Ego zumindest ein wenig gestreichelt haben.
Der Druck nach dem EM-Fehlstart war enorm. Doch Biedermann bewies einmal mehr Nervenstärke, auch wenn es zum vierten EM-Titel in Folge auf seiner Weltrekordstrecke nicht ganz gereicht hat. "Was ich an Paul mein Leben lang bewundern werde, ist, dass er unter Druck nicht bricht, sondern stärker wird", sagte Steffen, die in ihrer vor einem Jahr beendeten Karriere selbst viele Höhen und Tiefen erlebt hat.
Biedermann wird mit der großen Erwartungshaltung noch bis zu seinem Karriereende nach den Sommerspielen 2016 leben müssen. Mit Olympia hat das DSV-Aushängeschild noch eine Rechnung offen: Eine Medaille beim größten Sportfest der Welt blieb ihm bislang verwehrt. Über Silber in Rio würde sich Biedermann anders als bei der Heim-EM keine Sekunde ärgern.