Tor: Im Kasten vertraut Coach Wjatscheslaw Bykow komplett auf NHL-Power. Mit Jewgeni Nabokow und Ilja Bryzgalow stehen zwei Veteranen im Aufgebot, der extrem talentierte, aber noch junge - und zuletzt auch verletzte - Semjon Warlamow gilt als nominelle Nummer drei. Sowohl Nabokow und Brysgalow haben die Qualität, Russland zu Gold zu führen, dies haben auch beide schon bewiesen (Nabokow 2008, Bryzgalow 2009).
Die Entscheidung in Vancouver dürfte aber auf Nabokow fallen. Zwei Faktoren sprechen dafür: Erstens hat Lifetime-Shark Nabokow deutlich mehr Erfahrung unter höchstem Druck. Seinen 65 NHL-Playoff-Spielen stehen bei Bryzgalow nur 16 gegenüber - und das letzte liegt schon drei Jahre zurück. Und zweitens sind Nabokows back-to-back Shutouts im Viertel- und Halbfinale bei der Weltmeisterschaft 2008 - auch in Kanada - unvergessen.
In dieser Saison befinden sich beide Goalies in Topform und gehören in allen wichtigen Statistiken zu den Top-Schlussmännern der NHL. Bykow hat also die Qual der Wahl.
Abwehr: Wegen der Masse an Superstars in der Offensive gerät die Abwehr der Russen gerne in Vergessenheit. Allerdings zu Unrecht. Fünf NHL-Verteidiger sowie drei Profis aus der russischen KHL bilden in der Sbornaja-Defensive eine gute Mischung aus körperlich starken Abräumern und gefährlichen Waffen von der Blauen Linie.
Sergei Gontschar und Andrei Markow sind die prominentesten Abwehrspieler mit der meisten Erfahrung und dürften in Vancouver zu den stärksten Powerplay-Snipern gehören. Gontschar geht bereits in sein viertes olympisches Turnier und hat weit über 1000 Spiele als Profi absolviert. Er ist also auch als Leader in der Kabine gefragt.
Markow hat nach seiner langwierigen Sprunggelenksverletzung zwar die ersten zehn Wochen der Spielzeit verpasst, spielt aber seit Mitte Dezember schmerzfrei. In seinen ersten sieben Spielen nach der Verletzung erzielte er elf Scorerpunkte (3-8), mittlerweile wartet er jedoch schon 21 Spielen auf einen Treffer. Dennoch werden er und Gonchar ein starkes Duo abgeben. Der in Ufa offensiv wiedererstarkte Dimitri Kalinin dürfte auch einige Powerplay-Zeit bekommen.
Fjodor Tjutin und Anton Woltschenkow werden die Aufgabe haben, die stärksten Sturmreihen der Gegner auszuschalten. Die drei weiteren Defensemen Denis Grebeschkow, Konstantin Kornejew und Ilja Nikulin sind stark, aber nicht überragend - die fehlende Tiefe an Topverteidigern gilt als einzige Schwäche der Sbornaja.
Angriff: Die Offensive der Russen liest sich wie eine All-Star-Aufreihung. Ein Mann aber ragt aus den Superstars noch heraus: Alexander Owetschkin. Die Nummer acht der Capitals ist für viele Experten und Fans der beste Hartgummi-Virtuose der Welt. Kein Spieler strahlt mehr Torgefahr aus, kein Spieler sorgt für mehr atemberaubende Momente auf dem Eis als er.
Seit dem Draft 2004 hat "Alexander der Große" in 375 Spielen 506 Scorerpunkte gesammelt - ein Fabelwert. Allein seine Präsenz sorgt für höchste Alarmbereitschaft beim Gegner.
Hinter Owetschkin warten mit Neu-Devil Ilja Kowaltschuk, Jewgeni Malkin, Pawel Datsyuk und Alexander Semin eine ganze Armee an Scharfschützen - und im 40-jährigen Sergei Fedorow der "Jaromir Jagr" Russlands.
Von der Technik, Geschwindigkeit und individuellen Klasse macht nicht einmal Team Canada den Russen was vor, entscheidend wird für Russland daher sein, ob das Team zu einer eingeschworenen Einheit wird, was in der Vergangenheit nicht immer gelang.
Im Sturm der Russen gibt es zwei Lager. Sechs Spieler kommen aus der NHL, ebenso viele aus der KHL. Es ist gut vorstellbar, dass Coach Bykow die Reihen auch dementsprechend gestaltet.
Zu den bereits erwähnten NHL-Stars und Altmeister Fedorow kommen der Ufa-Block um Alexander Radulov (seit 2008 107 Punkte in 103 Spielen), der als rechter Flügelstürmer an der Seite von seinen Vereinskollegen Sergei Sinowjew und Viktor Kozlow attackieren wird - eine perfekt abgestimmte Reihe. Ihr Trainer heißt bei Ufa übrigens Wjatscheslaw Bykow.
Komplettiert wird das Aufgebot von den beiden Kasan-Wingern Danis Saripow und Alexei Morozow, die aller Voraussicht nach Fedorow flankieren werden.
Sicher ist: In welchen Kombinationen die Spieler auch auflaufen, ein Offensivspektakel ist vorprogrammiert.
Trainer: Nach dem enttäuschenden vierten Platz in Turin und dem WM-Aus im Viertelfinale 2006 übernahm Wjatscheslaw Bykow das Amt des russischen Nationaltrainers und führte das Team zurück in die Weltspitze. Unter seiner Ägide stehen bei drei Weltmeisterschaften eine Bronzemedaille und zuletzt zwei Mal Gold zu Buche. In beiden Finalspielen hieß der Gegner Kanada. Bykow gilt als derjenige, der den Stars nachhaltig die Wichtigkeit von Teamspirit eingebläut hat.
Für eine große Überraschung sorgte Bykow bei der Benennung seines Kaders, als er die Veteranen Alexei Kowalew und Sergei Zubow nicht berücksichtigte.
Als Trainer ist Vancouver die erste Olympia-Erfahrung für Bykow, als offensivstarker Center holte er aber 1988 und 1992 gleich zwei Mal olympisches Gold. An Siegermentalität mangelt es Bykow demnach nicht.
So gewinnt Russland Gold: Im letzten Gruppenspiel gegen die ebenfalls schon qualifizierten Tschechen schonen sich die Stars und bieten den alten Herren Platz, sich auszutoben. Es kommt zum Opa-Duell zwischen Fedorow und Jagr, das in einem müden Faustkampf seinen Höhepunkt findet. Fedorow schickt Jagr mit einem Tiefschlag zu Boden. Ein böses Foul, aber genau der Boost, den Russland gebraucht hat, um sich für die kommenden Aufgaben zu motivieren.
Im Viertelfinale wartet - sensationell - Deutschland. Im ersten Drittel schießt Russland einen Vorsprung heraus, das Triumvirat Owetschkin - Malkin - Datsyuk spielt drei Mal Dreieck - 3:0. Doch angepeitscht vom frenetischen Canucks-Publikum kommt Deutschland durch den Doppelschlag von Lokalmatador Christian Ehrhoff auf 2:3 ran. Russland wankt, rettet sich aber mit dem knappen Vorsprung ins Halbfinale.
Nach dem krassen Einbruch ist im russischen Camp die Hölle los. Trainer Bykow hat seine liebe Müh und Not, eine Massenschlägerei zu verhindern. Angestachelt von dieser Wut fegt Russland die USA im Halbfinale mit 4:1 vom Eis. Man hat sich wieder lieb und steht im Finale. Dort wartet natürlich Kanada.
Das Finale wird bestimmt vom Duell Owetschkin gegen Crosby. Der kanadische Superstars eröffnet das Privatduell mit einem Doppelpack. Owetschkin kontert - aus reiner Gewohnheit - mit einem Hattrick. Die Halle bebt, aus Frust schmeißen die Zuschauer anstatt "Hats" volle Bierbecher auf die Eisfläche. Nach einer längeren Unterbrechung wegen der folgenden Probleme mit der Eisfläche geht es weiter, aber das Spiel hat komplett an Fahrt verloren. 35 Minuten lang passiert fast nichts mehr und Russland ist nach einem der langweiligsten Endspiele der Geschichte Olympiasieger.