Es ist der 24. Juni 1995. Südafrika hat sich soeben zum Rugby-Weltmeister gekürt. Doch für das Land am Kap der guten Hoffnung ist der Moment, in dem Nelson Mandela, der erste farbige Präsident des Landes, Francois Pienaar, dem weißen Kapitän des Teams, die Trophäe überreicht mehr als das. Er gilt gilt bis heute als Beginn der Aussöhnung zwischen Weiß und Schwarz im Land am Kap der guten Hoffnung.
Um die Signifikanz dieser Geste - Mandela im von vielen Schwarzen verhassten Trikot der Springboks gehüllt - zu verstehen, muss man sich mit der Geschichte der Apartheid in Südafrika auseinandersetzen. Das Land wurde seit dem frühen 17. Jahrhundert von weißen Kolonialherren holländischer und britischer Abstammung beherrscht.
Vorreiter der Apartheid
Von 1948 an war die bereits bestehende Rassentrennung durch die sogenannten Apartheid-Gesetze institutionalisiert worden. Alle Bereiche der Gesellschaft und sogar ganze Städte wurden nach dem Grundsatz "getrennt aber gleich" neu organisiert. Dass damit die Zementierung des Status Quo einherging, einerseits wohlhabende gebildete Kolonialherren und auf der anderen Seite eine schwarze Dienerklasse, war durchaus gewollt.
Rugby als mit Abstand beliebtester Sport der weißen Minderheit war dabei keine Ausnahme, sondern vielmehr der unrühmliche Vorreiter. Bei Gastspielen der australischen Wallabies und der neuseeländischen All Blacks in den 60er Jahren verwehrte die südafrikanische Regierung farbigen Spielern der Gegner die Einreise ins Land. Per Gesetz war Sport mit gemischtrassigen Mannschaften verboten.
Olympia-Boykott als Folge
Eine Tour der All Blacks im Jahr 1976 nach Südafrika beinhaltete zwar fünf Spieler mit Maori-Abstammung, diese durften jedoch nur gegen die Boks antreten, da ihnen temporär der Status von "Ehrenweißen" erteilt wurde. Als Reaktion auf die Entscheidung Neuseelands die Tour stattfinden zu lassen, boykottierten 26 afrikanische Staaten die olympischen Spiele 1976. Sie forderten einen Ausschluss Neuseelands von den Spielen, auch aufgrund der öffentlichen Unterstützung durch den Premierminister Neuseelands für die Tour nach Südafrika.
Nach und nach weigerten sich Rugby-Großmächte wie Frankreich oder Argentinien das Apartheid-Regime mit prestigeträchtigen Länderspielen zu stützen. Folgerichtig durften die Boks auch nach einer Entscheidung des Weltverbands nicht an den ersten beiden Rugby Weltmeisterschaften 1987 und 1991 teilnehmen, obwohl sie rein spielerisch seit jeher zur absoluten Weltklasse zählen.
Das Wunder 1995
Nach dem Ende der Apartheid und der Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten des neuen Südafrika, wurden alle Boykottbemühungen eingestellt. Mehr noch, der Weltverband IRB vergab die WM 1995 an Südafrika. Entgegen allen Erwartungen schaffte es der Gastgeber trotz einer Dekade ohne nennenswerte Erfolge bis in das Finale des Turniers. Gegen eine übermächtige Mannschaft der All Blacks, mit dem noch jungen Superstar Jonah Lomu, gelang nach Verlängerung der Titelgewinn.
Bemühungen seitens der Regierungspartei ANC und des Sportministers das Springbok-Logo zu verbieten und die Farben des Trikots zu ändern waren mit einem Mal vergessen. Ein weitestgehend von weißen Südafrikanern besetzter Ellis Park in Johannesburg skandierte minutenlang den Namen Mandelas. Der zu Tränen gerührte Kapitän der Boks Francois Pienaar betonte, dass die Mannschaft diesen Titel für alle Südafrikaner gewonnen habe. Unter den 15 Weltmeistern befand sich mit Chester Williams immerhin ein schwarzer Spieler in den Reihen der Boks.
Neues Symbol der Hoffnung
Die Bilder von feiernden farbigen Südafrikanern Hand in Hand mit ihren ehemaligen Unterdrückern gingen um die Welt. Innerhalb kürzester Zeit wurde aus den Springboks, dem einstigen Symbol der Apartheid, ein Symbol der Hoffnung und des Wandels. Der Triumph des ultimativen Underdogs und die Verbrüderung durch den Anführer der Revolution Nelson Mandela ermöglichten, was nur wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.
Zwanzig Jahre nach dem historischen Triumph spiegeln sich die veränderten Realitäten im Land auch zunehmend in der Zusammensetzung der Mannschaft wider. Aber obwohl mittlerweile deutlich mehr farbige Südafrikaner Rugby spielen, ist nur ein Drittel des aktuellen WM-Kaders nicht weiß. Bei fast jeder Nominierung entstehen Kontroversen und vor der WM in diesem Jahr nutzte eine Gewerkschaft die Aufmerksamkeit, die dieses Thema bietet, um dem Trainer der Springboks rassistische Motive bei seiner Spieler-Auswahl vorzuwerfen.
Von der anderen Seite werden schwarze Spieler oftmals als abfällig als Quotenfüller abgetan. Tatsächlich hat sich der Verband selbst das Ziel gesetzt, bis zur nächsten WM 2019 in Japan mindestens 50 Prozent farbige Spieler im Kader zu haben. Bryan Habana, mit 61 erzielten Versuchen Südafrikas erfolgreichster Winger aller Zeiten, hat vorgemacht, dass es als schwarzer Spieler möglich ist zum absoluten Superstar zu werden.
Jedoch haben viele talentierte Nachwuchsspieler in den Townships von Kapstadt oder Johannesburg nicht den Zugang zu optimalen Trainingsbedingungen. Darüber hinaus ist das Thema Unterernährung in sehr vielen unterprivilegierten schwarzen Haushalten noch immer ein großes Problem. Bei einem Sport, in dem Größe und Kraft eine vitale Voraussetzung sind, um es bis an die Spitze zu schaffen, versperrt ein solch elementares Problem vielen Jugendlichen jegliche Möglichkeiten.
Das Finale im Blick
Trotz aller Kontroversen sind die Boks das beliebteste Sport-Team des Landes. Die Medien sind gerade zu Zeiten der WM voll mit Berichten und Tickets für ein Springbok-Spiel sind sehr schwer zu ergattern - obwohl sie die mit Abstand teuersten im Land sind.
Besonders die Tickets gegen die All Blacks sind besonders begehrt. Südafrikas Mannschaft ist eine der wenigen, der es gelang den übermächtigen All Blacks hin und wieder mal ein Bein zu stellen. Bei der WM könnte es bereits im Halbfinale zu diesem Duell der beiden historisch besten Mannschaften der Welt kommen.
Die Boks haben sich allem Anschein nach von ihrer schockierenden Auftaktniederlage gegen die aufstrebende japanische Mannschaft erholt. Nachdem sich das Trainerteam in einem offenen Brief bei der gesamten Nation entschuldigt hatte und der Sportminister des Landes sich genötigt fühlte, die Boks als einen "Haufen von Verlierern" zu titulieren, folgten zwei überzeugende Siege gegen Schottland und Samoa.
Das heutige Duell in der Gruppenphase gegen die USA sollte für die erfahrenen Südafrikaner kein Problem darstellen. Das Potenzial der Mannschaft ist groß. Sollten die Boks am 31. Oktober im Finale erneut triumphieren, dürfte es ihnen trotz aller Kontroversen zum wiederholten Male gelingen, die Nation am Kap zu einen.