Kelly Olynyk lässt seinen Blick durch die Trainingshalle der Boston Celtics schweifen. An den Wänden hängen die Banner der insgesamt 17 NBA-Meisterschaften. "Wenn du dich hier umguckst, merkst du: Gewinnen hat in Boston Tradition. Wenn du deine Nummer dort an der Wand siehst, hast du das höchste Level erreicht", sagt der 22-Jährige mit einem Augenzwinkern.
Er ist glücklich. Glücklich darüber, dass er die Chance bekommen hat, für die erfolgreichste Franchise der NBA-Geschichte spielen zu dürfen, den Rekordmeister. Glücklich aber auch, dass er es überhaupt in die beste Basketballliga der Welt geschafft hat. Denn wenn man einen Blick in die Vergangenheit des Kanadiers wirft, wird schnell klar, dass dieser Sprung noch vor 14 Monaten nicht abzusehen war.
Vom Point Guard zum Center
Dabei wird der Basketball Olynyk quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater war 13 Jahre Coach der University of Toronto und diverser Jugendnationalmannschaften Kanadas, seine Mutter Schiedsrichterin und im Kampfgericht der Raptors tätig. Dennoch ist es für Kelly nicht leicht, in einem Land, in dem die meisten Jungen Eishockey-Legende Wayne Gretzky nacheifern, ein herausragender Basketballer zu werden.
Olynyk bleibt trotzdem in Kanada und besucht die South Kamloops High School. Obwohl er in der elften Klasse satte 18 Zentimeter in die Höhe schießt, spielt er bis zum Ende seiner Highschool-Zeit als Point Guard.
Um den nächsten Schritt zu machen, entscheidet er sich dann gegen Top-Unis wie Syracuse und geht nach Gonzaga. Dort muss der mittlerweile 2,13 Meter große Kelly gezwungenermaßen den Weg vom Back- in den Frontcourt antreten. Eine erhebliche Umstellung, mit der er gar nicht zurechtkommt.
Nach zwei enttäuschenden Jahren mit nur 3,8 und 5,8 Punkten pro Spiel geht Kelly erneut einen ungewöhnlichen Weg: Anstatt das College zu wechseln oder sich mit der Bankrolle zufriedenzugeben, nimmt der 20-Jährige eine freiwillige Auszeit, ein sogenanntes Redshirt-Year, 2011/12 trainiert Olynyk zwar mit dem Team, nimmt aber nicht an Spielen teil.
Redshirt-Jahr als Schlüssel
Stattdessen zieht er quasi im Kraftraum ein und arbeitet im Training vor allem an seinem Post-Game, seiner Koordination und Beweglichkeit. "Wenn die Dinge nicht so laufen, wie du es willst, gibst du dich mit dem Ergebnis zufrieden oder musst radikal etwas ändern!" Kelly tut Letzteres, bereitet seinen Körper auf das physische Spiel am Brett vor. Mit beeindruckendem Erfolg.
2012/2013 ist er ein komplett anderer Spieler und mit 17,8 Punkten (bei 62,9-prozentiger Wurfquote!) Topscorer der Bulldogs. Zudem holt er 7,3 Rebounds, wird ins All-America First Team und zum WCC-Spieler des Jahres gewählt. Das nächste Level ist erreicht. Zeit für den nächsten Schritt.
Die Mavs picken Kelly beim NBA Draft an 13. Stelle und traden ihn umgehend nach Boston, wo er ein wichtiges Puzzleteil des neuen Teams werden soll. Direkt im ersten Summer-League-Spiel legt Olynyk 25 Punkte auf und überzeugt mit insgesamt 18,0 Punkten und 7,8 Rebounds pro Spiel.
Viele Experten stellen sich dennoch die Frage: Hat er das Zeug, um mit den athletischen Big Men in der NBA mitzuhalten? Inzwischen steht fest: Ja! Mangelnde Explosivität gleicht Kelly mit Intelligenz und Skills aus. Mit seiner Vielseitigkeit stellt er gegnerische Teams immer wieder vor Probleme.
Durchwachsener Start - aber schon vier Starts
Vor allem im Fastbreak ist der 2,13-Meter-Mann eine gefährliche Waffe. Seine Schwächen sind die Defense und mangelnde Konstanz. Vor allem im One-on-One kann er Gegner oft nur mit unfairen Mitteln stoppen, in den ersten elf Partien begeht er im Schnitt in nur 22,3 Minuten 3,5 Fouls!
Aufgrund extrem schwankender Leistungen ist sein NBA-Start durchwachsen, doch wie groß die Wertschätzung der Celtics ist, sieht man daran, dass der Kanadier schon vier Mal gestartet ist. "Er weiß einfach, wie das Spiel funktioniert", lobt sein Coach Brad Stevens.
Olynyk dankt ihm das Vertrauen mit Performances wie gegen Orlando (120:105), wo er 16 Punkte, 7 Rebounds und 5 Assists liefert. Es ist ein weiteres Indiz dafür, dass er bereits in Jahr eins nach der Kevin-Garnett-und-Paul-Pierce-Ära in Boston eine wichtige Rolle einnehmen kann.
Viel Raum zur Entfaltung
Hinter dem neuen Alleinherrscher Rajon Rondo, der nach seinem Kreuzbandriss noch außer Gefecht ist, bleibt genug Platz, sich schnell zu etablieren. Aufgrund der namhaften Abgänge lastet zudem erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit kein Leistungsdruck auf den Celtics.
Trotzdem oder gerade deswegen wird Kelly Olynyk weiter hart an sich arbeiten, um sich möglichst schnell einen Namen in der NBA zu machen.
"Es gibt viele Spieler, von denen man sich Dinge abgucken kann. Man sollte sein Spiel aber nicht komplett nach anderen ausrichten. Du hast das nächste Level erreicht, wenn andere sich Dinge von dir abgucken."
Selbstbewusste Worte für einen 22-Jährigen, der erst ein paar NBA-Spiele absolviert hat. Doch Olynyk scheint dafür bereit zu sein, auch diesen Schritt zu machen und das nächsthöhere Level zu erreichen.
Scouting-Report
Stärken: Vielseitiger Big Man. Kann die Vier und Fünf spielen. Für seine Länge sehr beweglich, mit gutem Drive. Skill Player, der von überall effektiv punkten kann. Zudem mit lockerem Händchen, dank dem er auch von jenseits der Dreierlinie gefährlich und dadurch im Pick'n'Roll schwer auszurechnen ist.
Schwächen: Mangelnde Explosivität, blockt kaum Würfe. Kein gutes Defensivbewusstsein. Weiß sich oft nur mit Fouls zu helfen, leistet sich zu viele Turnovers und schließt oft zu überhastet ab. Noch sehr inkonstant.
Fazit
Sehr variabler Big Man mit großem Offensivpotenzial, der sich in der Defense steigern und konstanter werden muss, um sich zu einem guten und effektiven Rollenspieler zu entwickeln.
Der Artikel erscheint in BASKET 01/2014