Als Buccaners-Coach Bruce Arians nach dem letzten Spieltag zu seiner Saison-Abschluss-PK gebeten wurde, war ein nicht übersehbares Maß an Frust feststellbar.
Ob er denn, mit Blick auf den auslaufenden Vertrag von Jameis Winston, auch mit einem anderen Quarterback gewinnen könne, wurde Arians da unter anderem gefragt. "Mit einem anderen Quarterback? Keine Frage", schoss Arians mit gewohnt scharfer Munition und goss noch eine Portion Öl ins Feuer hinterher: "Wir können mit diesem Quarterback gewinnen, wir können definitiv auch mit einem anderen gewinnen."
Zu sagen, dass Winston eine wilde Saison hinter sich hat, wird dem ganzen Ausmaß nicht ansatzweise gerecht. Als erster Quarterback aller Zeiten warf er innerhalb einer Saison über 30 Touchdowns sowie 30 Interceptions. Mit 5.109 Passing-Yards führte er die NFL an. Die gern zitierte Achterbahnfahrt wäre treffend, sofern man ein paar zusätzliche Loopings einbaut und der Wagen regelmäßig zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgang in volle Beschleunigung gehen würde.
Und so steht Tampa Bay vor einer grundlegend philosophischen Frage: Kann man mit der wildesten aller Quarterback-Achterbahnfahrten erfolgreich sein? Oder ist der Weg zum Erfolg vielversprechender, wenn man die Big Plays, positiv wie negativ, reduziert?
Buccaneers: Interesse an Rivers und Brady?
Als Arians Mitte Februar gefragt wurde, ob sich schon eine Quarterback-Entscheidung abzeichnet, unterstrich er nochmals seine Meinung: "Nein, weil wir nicht wissen, wer verfügbar wird. Im Moment wartet man einfach ab, um zu sehen, wer auf den Markt kommt. Und dann muss man sich fragen, ob es eine bessere verfügbare Option gibt."
Große Namen wie Philip Rivers und auch Tom Brady kursieren rund um die Buccaneers, und Arians' Aussage bestätigte Berichte von der Combine, wonach man sich in Tampa schlicht nicht sicher ist, inwieweit man Winston vertrauen kann.
"Wie könnten sie auch?", schießt an diesem Punkt womöglich dem einen oder anderen durch den Kopf. 30 Interceptions, dazu zwölf Fumbles - Winston war eine Turnover-Maschine und viele dürften noch einzelne Katastrophen-Spiele im Kopf haben; keines drastischer als das Debakel in London gegen die Panthers, als Winston fünf Picks warf, sieben Sacks kassierte und zwei Fumbles verzeichnete. Oder die vier Picks gegen Houston am vorletzten Spieltag. Oder auch die vier Interceptions zuhause gegen die Saints.
Dass Winston Spiele im Alleingang verlieren kann, daran besteht kein Zweifel. Interessant ist er, weil er auch Spiele für ein Team gewinnen kann. Und hier wird die Bewertung erst wirklich spannend.
Arians über Winston: "Viel Positives dabei"
Selbst bei Arians kommt hier eine gewisse Ambivalenz durch. Bei der Combine brachte er seine Meinung zu seinem ersten Jahr mit Winston so auf den Punkt: "Ich habe ihn geliebt und ich habe ihn gehasst. Da war mehr Liebe - ich meine, wenn jemand für über 30 Touchdowns und über 5.000 Yards wirft, dann ist da viel Positives dabei. Bei den Fehlern aber kann man sich manchmal nur an den Kopf fassen. Er ist einer dieser Spieler, die manchmal Spiele alleine gewinnen wollen."
Betrachtet man jede einzelne von Winstons Interceptions im Detail, dann kommt man je nach Analyse auf etwa 14 bis 18 komplett selbstverschuldete Turnover. Also Interceptions, die auf Winstons Kappe gingen. Viel zu häufig hat Winston Underneath-Verteidiger komplett übersehen, Bälle in Coverage gefeuert oder sich andere haarsträubende Fehler geleistet; die ausführlichste Analyse dazu gibt es hier.
Es ist unbestreitbar, dass das deutlich zu viel ist. Nur Baker Mayfield (21) hatte ansonsten insgesamt allein über 20 Interceptions. Mögliche selbstverschuldete Picks, bei denen der Verteidiger den Ball fallen ließ, müsste man in dem Fall zudem umgekehrt drauf packen.
Doch am spannendsten ist bei Arians' Aussage der Part, dass Winston manchmal "Spiele alleine gewinnen will"; denn zu einem nicht unerheblichen Teil erfordert seine Offense das auch von ihrem Quarterback.
Jameis Winstons Stats 2019:
Kategorie | Wert | Liga-Platzierung |
Expected Points Added pro Play | 0,16 | 13 |
Durchschnittliche Target-Tiefe | 10,4 YDS | 2 (Minimum: 200 Pass Attempts) |
CPOE | 0,3% | 16 (Minimum: 200 Pass Attempts) |
Deep Passing Yards | 1.351 YDS | 1 |
Air Yards to the Stick | 1,4 | 2 (Minimum: 128 Pass Attempts) |
Yards nach dem Catch pro Completion | 4,9 | 24 |
On-Target Pässe | 69,9% | 32 |
Touchdown-Pässe/Interceptions | 33/30 | 2/1 |
Passing-Yards | 5.109 | 1 |
Anmerkungen: CPOE steht für "Completion Percentage Over Expectation". Hier werden Variablen wie die Nähe des Pass-Rushs zum Quarterback im Moment des Wurfs und die Nähe des Coverage-Spielers zum angespielten Receivers berechnet, um zu ermitteln, wie häufig der Quarterback Pässe anbringt, die einerseits erwartbar sind und dann aber auch wie viele er anbringt, die darüber hinausgehen. "Deep Passing Yards" beschreibt die Yards bei Pässen, die der Quarterback mindestens 20 Yards downfield wirft. "Air Yards to the Sticks" zeigt, wie nah (und ob darüber oder davor) an den neuen First-Down-Marker der Quarterback den Ball im Schnitt wirft.
Die Arians-Offense - eine detaillierte Betrachtung selbiger gibt es hier - wurde nicht zufällig insbesondere aus der Zeit bei den Arizona Cardinals unter dem Motto "No risk it, no biscuit" geführt. Das beschreibt einerseits die tiefen Pässe, die fester Bestandteil dieser Offense sind; das echte Markenzeichen aber ist das Attackieren der Mid-Range, etwa zehn bis 20 Yards Downfield. Beides geht unweigerlich mit einem höherem Risiko für den Quarterback einher, verglichen mit einer Offense, die primär über kurze Pässe funktioniert.
Doch hier werden in der NFL auch am ehesten konstante Big Plays kreiert, hier will Arians attackieren - und hier war Winston in der vergangenen Saison auch äußerst produktiv (1.933 YDS, 14 TD, 13 INT). Am mit Abstand besten aber war Winston, wenn er vertikal attackieren konnte. Er führte die Liga mit 1.351 Passing-Yards bei Pässen, die mindestens 20 Yards das Feld runter flogen, an und legte hier neun Touchdowns bei fünf Interceptions auf. Nur Matthew Stafford warf den Ball im Schnitt weiter.
Wie kann man Winstons Extreme einordnen?
Was lässt sich daraus mitnehmen? Zunächst einmal ist es nicht überraschend. Unter Arians warf Carson Palmer 2016 unter Quarterbacks mit mindestens 250 Pässen im Schnitt am drittweitesten (10,1 Yards), in der verletzungsgeplagten 2017er Saison, Arians letztes Jahr in der Wüste, standen Drew Stanton (Rang 2), Carson Palmer (7) und Blaine Gabbert (9) alle in der Top-10 in der gleichen Kategorie.
Das verlangt vom Quarterback deutlich mehr als andere Offenses. Während etwa Sean Payton in New Orleans oder Kyle Shanahan in San Francisco ihren Quarterbacks viele kurze Pässe geben und dann Yards nach dem Catch über Schemes und Play-Designs kreieren, muss ein Quarterback in der Arians-Offense deutlich schwierigere Würfe anbringen - und das konstant. Das führt zu - wenn der Quarterback gut ist - mehr Big Plays, es führt aber durch den deutlich erhöhten Schwierigkeitsgrad unweigerlich auch zu mehr Turnovern. Es führt zu weniger konstanter Production, dafür zu mehr Extremen.
Doch wie kann man das gegeneinander aufrechnen? Eine Option: Winston verzeichnete in der vergangenen Saison 0,16 Expected Points Added pro Play. Das wäre Platz 16, also ligaweites Mittelmaß. Aaron Rodgers, der nur vier Interceptions warf, rangierte mit 0,14 EPA/Play knapp darunter. Genau wie Tom Brady (0,11/8 Picks) oder Jacoby Brissett (0,14/6 Picks).
Die drei Quarterbacks zusammengerechnet hatten also 2019 nur etwas mehr als halb so viele Interceptions (18) wie Winston alleine (30), keiner aber produzierte mehr Expected Points Added pro Spielzug.
Was sagt uns das? Interceptions zu werfen ist nicht gut, das steht außer Frage. Doch solange der Quarterback umgekehrt auch verlässlich die Big Plays auflegt, neutralisiert es sie nicht nur - eine hohe Turnover-Quote mit hoher Big-Play-Quote kann unter dem Strich einen höheren Wert für das Team haben als eine sehr niedrige Turnover-Quote mit einer durchwachsenen Big-Play-Quote. Das ist ein ganz elementarer Takeaway für die Einschätzung Winstons, das müssen sich die Buccaneers bewusst machen.