Als am Dienstag die ersten Schlagzeilen zum Wimbledon-Auftaktspiel von Nick Kyrgios auftauchten, war der Gedanke an den nächsten Skandalauftritt des notorischen "Bad Boys" nicht ganz abwegig. "Kyrgios bringt Ballmädchen zum Weinen", stand da etwa zu lesen. Oder auch: "Kyrgios verletzt Ballmädchen." Aber es war nur eine gewollte Unschärfe der Nachricht, auf Kosten des Enfant Terrible.
Denn Kyrgios hatte nur mit einem seiner Hammer-Aufschläge, gemessene 222 km/h schnell, die junge Frau so schmerzhaft am Oberarm getroffen, dass ein Tränenausbruch auch wegen des Schocks folgte. Kyrgios war selbst noch zur Stelle, um das getroffene Mädchen zu trösten. "Ich hätte wahrscheinlich auch gleich losgeheult", sagte der Australier später, nach seinem schwer erkämpften Starterfolg gegen Denis Istomin (Usbekistan).
McEnroe - "Kyrgios spielt gegen die Norm"
Kyrgios, der 23-jährige Hüne mit der imposanten Figur eines NBA-Basketballartisten, ist eines der größten Talente im Welttennis. Aber er ist eben auch die verrückteste, schillerndste, unberechenbarste Figur im Nomadenbetrieb der Schläger-Typen - ein launisch-unbeherrschter Mann, der scheinbar ewig zwischen Genie und Wahnsinn schwebt. Schon jetzt, in jungen Jahren, haben sich in seiner Skandalchronik zu viele bizarre Kapitel angehäuft, sogar Sperren wurden dem Australier schon von seiner eigenen Standesorganisation, der Association of Tennis Professionals (ATP), aufgebrummt.
"Wenn Nick sich nicht selbst der größte Gegner wäre, hätte er vermutlich schon einen Grand Slam-Titel gewonnen", meint Amerikas ehemaliger Exzentriker John McEnroe. In Kyrgios und dessen zerrissener Seele erkennt sich McEnroe mühelos wieder: "Er ist eben keiner, der glatt durchs Leben geht", so BigMac, "er spielt gegen die Norm."
Strafe für abgeschenktes Match
Als Kyrgios 2016 wegen eines abgeschenkten Spiels in Shanghai gegen den Deutschen Mischa Zverev zu einer Zwangspause verurteilt wurde, erlegte ihm die ATP auch eine sportpsychologische Beratung auf. Die Sperre wurde deswegen reduziert, aber Kyrgios blieb sich schnell wieder treu, fiel in alte ärgerliche Verhaltensmuster zurück. Fragwürdig verlorene Matches, heftige Auseinandersetzungen mit Schiedsrichtern, aber auch mal mit Kollegen begleiteten rasch wieder seine Reisen im Wanderzirkus.
Kyrgios quittierte die Kritik eher mit Fatalismus, er wisse eben selbst nicht, "was im nächsten Moment passiert": "Mal habe ich Bock aufs Tennis, und im nächsten Moment fehlt mir jegliche Motivation." Zuletzt wurde er sogar im ehrwürdigen Queens Club bestraft, weil er auf der Pausenbank mit einer Trinkflasche eine Masturbationsszene simulierte. Nichts, wirklich nichts ist unmöglich mit Kyrgios.
Federer - "Nick kann die Zuschauer begeistern"
In seinen glänzendsten Momenten spielt Kyrgios Tennis zum Verlieben. Manche Schläge sind einfach nur wahnsinnig gut - und zuweilen hart an der Grenze zur Provokation. Gegen den englischen Heroen Andy Murray drehte Kyrgios kürzlich eine Pirouette auf dem Tennis-Grün, ehe er einen Schmetterball versenkte. Sir Andy nahm es stoisch hin, aber die meisten Mitspieler ließen sich "nur ungern zum Affen machen", wie ein europäischer Tourspieler sagt: "Nick würde sicher keinen Beliebtheitswettbewerb bei uns gewinnen."
Es sei Kyrgios zu wünschen, dass er noch irgendwie die Kurve kriege in seinem Tennisleben, befand Roger Federer nach seinem jüngsten Stuttgarter Sieg über den Australier: "Nick ist einer, der die Zuschauer begeistern kann. Er spielt ein Tennis, das ich unglaublich gerne mag." Auch er selbst sei ein "wilder Typ" gewesen in jungen Jahren, so Federer: "Aber irgendwann habe ich mir gesagt: Stop jetzt, so geht es nicht weiter. Sonst wird nix aus dir."
In Wimbledon Spielbetrieb gegen Gasquet eingestellt
Und was wird aus Kyrgios? Er hätte alle Mittel, alle Schläge, die großartige Athletik, um aus dem Stand in Wimbledon zu gewinnen. Dann, wenn er zwei Wochen seine Sinne zusammenhalten könnte. Gegen den Usbeken Istomin hämmerte er in rund drei Stunden 42 Asse ins gegnerische Feld, eigentlich eine Kampfansage an alle, die 2018 hier um den Titel mitspielen können und wollen. Aber Kyrgios hatte auch in anderen Wimbledon-Jahren seine strahlenden Augenblicke, bevor im nächsten Moment das Chaos ausbrach, so wie 2015, als er einen Schiedsrichter als "dreckigen Abschaum" bezeichnete - und dann zurückruderte, er habe sich selbst damit gemeint.
Damals stellte er auch einmal für längere Zeit im Match gegen den Franzosen Richard Gasquet komplett den Spielbetrieb ein und entkam nach einem Schlägerwurf ins Publikum im Duell mit dem Kanadier Milos Raonic nur knapp einer Disqualifikation. "Das Beispiel Kyrgios zeigt auch, wie gewaltig die Last der Erwartungen drückt", sagt dazu Englands früherer Star Tim Henman, "das ständige Leben im Scheinwerferlicht, die öffentliche Beobachtung - das verkraftet nicht jeder."