Immer wieder flog ein Marussia-Mechaniker in die Luft. Ihr Team hatte Historisches geschafft: Neunter Platz in Monaco für Jules Bianchi trotz eines Getriebewechsels und einer Fünf-Sekunden-Strafe im Rennen. Nach vier Saisons und sechs Rennen endlich die ersten Punkte in der Formel 1. Für den russisch-britischen Rennstall sind die zwei Zähler so viel wert wie ein Weltmeistertitel, weshalb der Jubel der Crew kaum Grenzen kannte.
"Wow. Was für ein Rennen und was für ein Ergebnis für das gesamte Team. Ich bin einfach unglaublich glücklich", sagte Bianchi, der mit seiner fehlerlosen Leistung und einem knallharten Überholmanöver gegen Kamui Kobayashi selbst die Grundlage für den Erfolg gelegt hatte.
Trotzdem verbuchte er den Punktgewinn nicht allein für sich. Die Mannschaft habe das Lob verdient: "Sie haben es wirklich verdient. Keiner weiß, wie viel Arbeit und Entschlossenheit in unsere Rennen gesteckt wird. Deshalb bin ich begeistert, dass ich geholfen habe, das Langzeitziel der ersten Punkte zu erreichen. Das zusammen zu schaffen, macht mich sehr stolz."
Endlich in den Geschichtsbüchern
Die graue Maus, die 2010 als Virgin Racing erstmals in der Formel 1 antrat, hat sich endlich in den Geschichtsbüchern verewigt. Die zwei eingefahrenen Punkte sind pures Gold für das finanzschwache Team aus dem 26 Kilometer östlich von Silverstone gelegenen Banbury. Endlich ist der Druck weg, endlich können die Ingenieure befreit arbeiten.
Doch warum brauchte es überhaupt über fünf Jahre des Geldverbrennens, bis endlich ein zählbarer Erfolg heraussprang? Schon der Vergleich zum Branchenprimus gibt Aufschluss: 180 Mitarbeiter hat Marussia, über 600 sind es bei Red Bull Racing. Auf 60 Millionen Euro bezifferte Teamchef John Booth 2013 das Budget seines Teams, womit mutmaßlich fast 300 Millionen zur Truppe aus Milton Keynes fehlen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
"Du musst dir im Klaren sein, dass eine Woche Formel 1 1,25 Millionen Pfund kostet. Damit kannst du die Autos bauen und zu den Rennen bringen und sie zwischen den Rennen auseinander- und wieder zusammenbauen", erklärte Ex-Technikchef Pat Symmonds "Auto Motor und Sport".
Symmonds: Red Bulls Vorteil ist 70 Mal so groß
Dass Marussia Jahr für Jahr daran scheitert, den Anschluss an das Mittelfeld zu schaffen, sei genau darin begründet: "Wenn du 200 Millionen wie Red Bull hast, brauchst du auch nur 60 Millionen, um zu den Rennen zu fahren. Der ganze Rest ist dazu da, Rundenzeiten zu finden. Du kannst also nicht 200 gegen 60 Millionen rechnen, sondern 140 gegen 2. Das ist der Vorteil von Red Bull im Vergleich zu uns. Also 70 Mal so groß. Und das killt die kleinen Teams."
Ganz so schlimm ist es bei Marussia mittlerweile nicht mehr. Der erfahrene Symmonds hat vor seinem Wechsel zu Williams die organisatorischen Grundlagen für eine bessere Zukunft getroffen, auch wenn die Schulden den Wert des Teams noch immer übersteigen.
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Allerdings verpufft die Technikpartnerschaft mit Ferrari fasst, weil im Windkanal und bei der Materialforschung noch immer kaum Fortschritte erreicht werden können. Der ureigene Rhythmus des Motorsports, in dem sechs Monate weiterentwickelt und sechs Monate das Auto für die kommende Saison aufgebaut wird, ist in der Formel 1 längst aufgehoben.
"Wenn ich auf die Mitte der 90er Jahre zurückblicke, als Benetton mit Michael Schumacher zwei Mal Weltmeister wurde, dann hätten Sie sich schwer getan den Unterschied dieses Benettons zwischen dem ersten und dem letzten Rennen zu sehen", so Symmonds: "Heute sprechen wir von zwei unterschiedlichen Autos. Jede aerodynamische Oberfläche ist am Saisonende anders als beim Saisonauftakt. Du bist gezwungen, jedes Rennen ein bis zwei Zehntel zu finden, sonst wirst du überrollt."
Das Saisonziel ist übertroffen
Genau deshalb war der neunte Platz für Marussia in Monte Carlo eine Erleichterung. Das Saisonziel ist schon übertroffen. Nicht nur Caterham liegt in der Gesamtwertung hinter dem russisch-englischen Team, sogar Sauber hat bisher keinen einzigen Zähler eingefahren. Jetzt geht es nur noch darum, diesen Vorsprung zu verteidigen.
"Wir denken, wir können das Resultat wiederholen. Wir können weiter auf dem Niveau fahren - vielleicht nicht auf Strecken wie Kanada, Monza und Spa, aber in Österreich, Silverstone oder Ungarn", sagt Booth. Viel wichtiger als die eigene Leistung wird dafür die Entwicklung der anderen Teams sein. Der Punktgewinn kam zur besten Zeit, die überhaupt möglich ist.
Bei Lotus, Toro Rosso und Red Bull soll auf der Motorenstrecke in Kanada endlich der Hybridantrieb zu einhundert Prozent funktionieren. Der zehnte Platz in der Endabrechnung wäre für das finanziell besser aufgestellte Sauber-Team damit nur mit geringer Wahrscheinlichkeit erreichbar, weil das Auto immer noch übergewichtig ist und auch insgesamt einen neuerlichen Rückschritt darstellt. Vom Potenzial des ehemaligen Spitzenteams mit BMW-Branding ist nicht mehr viel übrig. Es ist die größte Krise des Teams seit dem Einstieg 1993.
"Jetzt ist man offenbar an einem Punkt angelangt, wo es kaum noch weitergeht. Bevor der Schaden noch größer wird, wäre es die beste Lösung, wenn man aufhören und das Team verkaufen würde", malte Eddie Jordan im "Blick" schwarz. Er weiß wovon er spricht, schließlich entwickelte sich sein eigener Rennstall ähnlich, bevor er ihn zu Geld machte. Mittlerweile heißt das Team Force India.
Jordan: "Sauber kann die Nachteile nicht mehr wettmachen"
"Ich sage das nicht gerne, aber Sauber kann die Nachteile auf der finanziellen Seite und auch bei den Motoren kaum mehr wettmachen", befürchtet Jordan. Zu allem Übel schmissen Adrian Sutil und Esteban Gutierrez die sicheren Sauber-Punkte in Monte Carlo durch individuelle Fehler weg.
Bei Marussia weckt die Krise unterdessen motorsportliche Kanibaleninstinkte. "Wir müssen jetzt konstant beweisen, dass wir die Pace von Sauber mitgehen können", erklärte Bianchi das neue Ziel des Teams. Noch fehlen wenige Zehntel. Der große Vorteil ist allerdings die Zuverlässigkeit des Autos und die fehlerlose Arbeit beider Fahrer.
Schon im Vorjahr zog die Truppe so in der Endabrechnung an Dauerkonkurrent Caterham vorbei. Belegt der Rennstall auch 2014 in der Konstrukteurswertung einen Top-10-Platz, wird er für seine Verhältnisse mit Geld überschüttet.
Derzeit bekommen Booth und seine Mitstreiter nur aus einer von zwei Säulen des Finanzsystems von Bernie Ecclestone Geld. Die sogenannte Column 1 sichert sämtlichen Top-10-Teams der Vorsaison rund 30 Millionen Dollar. Aus Column 2 wird nur beschenkt, wer es in den letzten beiden Jahren unter die ersten Zehn schaffte. Dafür gibt es mindestens zehn Millionen, Marussias Entwicklungsbudget würde also um 500 Prozent steigen.
Marussia fürchtet sich vor Saisonfinale
"Es reicht, wenn wir uns daran erinnern, was 2012 beim Saisonfinale in Brasilien passiert ist", warnt Sportdirektor Graeme Lowdon unterdessen. Damals verlor Marussia den zehnten Platz in der Konstrukteurs-WM in den letzten Runden des letzten Rennens. "Den zehnten Platz zu halten hätte die finanzielle Situation des Teams signifikant verändern können."
Die Truppe war damals gezwungen, den Vertrag mit Timo Glock aufzulösen. Während der Deutsche bezahlt wurde, sollten Max Chilton und Luiz Razia Millionen mitbringen. Als die Mitgift des Brasilianers ausblieb, bekam schließlich Ferrari-Nachwuchspilot Bianchi seine Chance und beeindruckte Experten, Teamchefs und Kollegen - nicht nur mit seinem neunten Platz in Monaco.
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Selbst die Größen der Branche sprechen mittlerweile in den höchsten Tönen vom Formel-3-Euroseries-Champion des Jahres 2009. "Ich freue mich darüber, was dieses Ergebnis für seine Karriere bedeutet. Ich zweifle nicht, dass es eine gute Karriere werden wird. Hoffentlich bekommt er mit diesem Ergebnis eine Chance auf ein besseres Auto im kommenden Jahr", lobte Vizeweltmeister Fernando Alonso.
Der Spanier offenbart damit allerdings ein grundlegendes Problem für Bianchi. Bei seinem Förderer Ferrari blockiert Alonso zusammen mit Kimi Räikkönen die Cockpits. Marussia ist neben Sauber das einzige Kundenteam der Scuderia. In der aktuellen Situation wäre ein Wechsel nach Hinwil eher ein Rückschritt, dafür sorgt Bianchi selbst.
Stand in der Fahrer- und Kontrukteurs-WM