Learn to forget

Thomas Tuchel unterschrieb bei Borussia Dortmund einen Vertrag über drei Jahre
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Thomas Tuchel soll als Nachfolger von Jürgen Klopp den Neustart bei Borussia Dortmund einleiten. "Rulebreaker" Tuchel kämpft dabei gegen die erfolgreiche Vergangenheit des BVB an - und wird eine von ihm formulierte These belegen müssen.

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"Mein großer Wunsch ist es, unbelastet im Sommer neu anzufangen", verriet Thomas Tuchel erst vor wenigen Wochen der "Zeit", im einzigen Interview während seiner beruflichen Auszeit. Dieses Anliegen dürfte sich aber wohl gleich aus mehreren Gründen nicht verwirklichen lassen.

Wenn Tuchel im Mai nämlich als neuer Trainer von Borussia Dortmund vorgestellt wird, dann präsentieren die Westfalen auch gleichzeitig das Phantom der Bundesliga, den Erben von Jürgen Klopp und die personifizierte Hoffnung auf sportliche Besserung. Diese Last sowie die ständige Aufmerksamkeit, die Tuchel selbst während seiner Abwesenheit genoss, werden einen unbelasteten Start in seine neue Aufgabe unmöglich machen.

Tuchel hatte vor einem Jahr in Mainz im Endeffekt aus denselben Gründen aufgehört wie Klopp nun in Dortmund. Er sah in der Zusammenarbeit mit seiner Mannschaft das Potenzial zur Weiterentwicklung ausgereizt. Zu lange sprach dasselbe Gesicht zur Truppe, zu ausgeschöpft schienen Tuchel seine didaktischen Maßnahmen.

Klopp: Vergangenheit blockiert Entwicklung

Als Klopp vergangene Woche seinen Abschied begründete, redete er nicht davon, an die Grenzen seines Wirkens gekommen zu sein. Doch war genau dies die Botschaft zwischen den Zeilen, wenn er äußerte, "ganz sicher" zu sein, dass der Mannschaft die Einflüsse eines neuen Trainers mehr als gut tun würden.

Die Vergleiche mit der erfolgreichen Vergangenheit holten den BVB in den letzten zwei Jahren immer mehr ein, für Klopp blockierte diese permanente Rückschau die Entwicklung der Mannschaft. Die Reduzierung der Borussia auf ihren Trainer wurde innerhalb einiger intensiver Jahre von einer Stärke zur Schwäche.

Die Überlegenheit des Dortmunder Fußballs zu Klopps Anfangszeit nahm nach und nach ab. Die taktischen Entwicklungsschritte, die Klopp mit seinem Team ging, fielen zuletzt immer kleiner aus. Dortmund stagnierte zusehends und fiel plötzlich in ein nicht für möglich gehaltenes Loch.

Lernen, zu vergessen

Dass nun Tuchel das Mandat zur Modifizierung der Spielidee erhalten hat, ergibt angesichts dessen taktischer Flexibilität und Innovation, die er in Mainz beinahe bis zum Exzess auslebte, ohne Frage Sinn.

Die größere Herausforderung für Dortmunds neuen Coach wird aber das stückweise Eindämmen eines Phänomens sein, das er in kleinerer Dimension bereits in Mainz kennenlernte. Tuchel muss mit Beginn seines Amtsantritts beim BVB das Vergessen einer Ära einleiten.

Learn to forget - lernen zu vergessen: Damit sah sich Tuchel beim FSV konfrontiert, als er in seiner dritten Saison der besten Tabellenplatzierung der Historie (Platz 5) lediglich Rang 13 folgen ließ. Folglich veränderte sich der Blick auf seine Truppe und ihn, man maß die Mainzer fortan an ihren vergangenen Glanzleistungen.

Tuchel und der "Rulebreaker"-Vortrag

In seinem viel beachteten "Rulebreaker"-Vortrag während der Executive Days, einer exklusiven Zusammenkunft zeitgenössischer Innovatoren, sprach Tuchel 2012 über die neue Wahrnehmung seiner Mannschaft. Die höher angelegte Messlatte, die eigentlich eine Wertschätzung für das Geleistete sein sollte, verwandelte sich laut Tuchel für sein Team in eine leistungshemmende Bürde.

"Das Umfeld und damit auch meine Spieler können sehr schwer vergessen, dass das vorbei ist", erklärte Tuchel damals. Er schloss seine Rede mit einer These, die er als provokant bezeichnete. Sie wird Tuchel während seiner Zeit in Dortmund dem ultimativen Eignungstest unterziehen müssen: "Vielleicht ist es sogar wichtiger, den Erfolg, den herausragenden, überraschenden Erfolg, zu vergessen, als Misserfolge zu vergessen", sagte er.

Diese Herausforderung steht in der Zeit nach Klopp nämlich auch allen bei Borussia Dortmund ins Haus. Bei seiner Entscheidung zur Vertragsauflösung kam Klopp auch zum Entschluss, dass dieses Vergessen nicht möglich sei, solange er weiter an der Seitenlinie stünde.

Tuchel muss in die Köpfe eindringen

Tuchel wird bei den Westfalen daher auf Anhieb als ganzheitlicher Trainer gefragt sein, der neben der gruppen- und individualtaktischen Arbeit auf dem Feld vor allem in die Köpfe der Spieler eindringen muss. Doch nicht nur für sie, auch für Verein, Umfeld und Fans muss ab dem 1. Juli klipp und klar sein: Die Titel, Emotionen und Annehmlichkeiten des Klopp-Zeitalters sind Geschichte, Quervergleiche mit dieser Zeit sind pures Gift für die Gegenwart und werden letztlich Rückschritt bedeuten.

Tuchel wird beim BVB zweifelsohne auf einige Akteure treffen, die jahrelang mit Klopp zusammengearbeitet und sich an dessen Methodik gewöhnt haben. Ihnen gilt es künftig nicht nur zu vermitteln, Vergangenes vergessen zu können. Er benötigt auch ihre mentale Bereitschaft, neue Regeln, Handlungsweisen, ja neue Wahrheiten zu akzeptieren - die Definition des Rulebreaker-Ansatzes.

Der Trainer als Dienstleister

Diese Prinzipien, alte Denkmuster aufzulösen und neue Verhaltensweisen zu verinnerlichen, haben Tuchels Ruf als gewiefter Taktiker letztlich begründet. In Mainz baute er so während seiner ersten Jahre kontinuierlich eine Mannschaft auf, die auf die Zufälligkeiten des Spiels systematisch variabel reagierte und ständig intuitiv handelte - weil sie von ihrem Coach in unorthodoxen Trainingseinheiten zur permanenten Selbstreflexion gezwungen worden war.

"Auf dem Niveau ist es ein klares Players Game", sagt Tuchel. Der Trainer als Dienstleiter und Hilfesteller, die Spieler in gedanklicher Dauer-Bewegung als Einzelteile eines übergeordneten Ganzen.

Diese Entwicklung wird in Dortmund Zeit benötigen. Doch von diesem seltenen Gut wird Tuchel nicht viel bekommen, ihm sollte tunlichst die Rückkehr in die Champions League gelingen. Doch schafft er es gleich zu Beginn, die Psyche seiner neuen Belegschaft zu erobern und das Vergessen der Ära Klopp einzuleiten, wäre ein erster, sportlich essentieller Schritt getan.

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