Neben der Frage nach Dreier- oder Viererkette und jener, ob Joshua Kimmich nun im Mittelfeld oder doch rechts hinten spielt, war es der dritte große Diskussionspunkt vor dem EM-Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Weltmeister Frankreich: Sollte Bundestrainer Joachim Löw in der Offensive auf Kai Havertz oder Leroy Sane setzen? Löw entschied sich bekanntlich für Havertz - und dürfte diese Wahl nach der 0:1-Niederlage in München auch selbst hinterfragen.
Nun ist man im Nachhinein natürlich immer schlauer. Dennoch muss man konstatieren dürfen: Der Spielertyp Sane hätte der DFB-Elf in dieser Partie wahrscheinlich besser zu Gesicht gestanden als der Spielertyp Havertz. Weil Sane mit seinem überragenden Potenzial in Eins-gegen-Eins-Situationen viel eher hätte Mittel finden können als Havertz, der seine Kernkompetenz eben nicht im Auflösen von Offensivzweikämpfen hat. Und weil der frischgebackene Champions-League-Sieger vom FC Chelsea ohnehin zu keinem Zeitpunkt ins Spiel fand und allzu häufig etwas verloren wirkte.
Erst für die Schlussviertelstunde korrigierte Löw dann, brachte Sane und nahm Havertz dafür vom Platz. Entscheidende Impulse konnte der Bayern-Star fortan nicht mehr setzen und wurde nach einem verunglückten Freistoß sogar von einem Teil der Zuschauer in der Allianz Arena ausgebuht. Dennoch hätte nicht nur sein früherer Vereinskollege bei Manchester City, Ilkay Gündogan, Sane wohl gerne deutlich früher auf dem Rasen gesehen.
Leroy Sane und Kai Havertz im Formcheck
Leroy Sane | Statistik | Kai Havertz |
3 | Spiele | 2 |
147 | Minuten | 119 |
1 | Tore | 0 |
0 | Assists | 2 |
4 | Torschüsse | 1 |
2 | Torschussvorlagen | 3 |
87,1 % | Passquote | 84,7 % |
33,3 % | Zweikampfquote | 41,1 % |
Die Statistiken beziehen sich auf die Vorbereitung und das erste Gruppenspiel. Quelle: opta
Gündogan: "Sane ist ein Spieler, der Rhythmus braucht"
"Leroy ist ein Spieler, der Rhythmus braucht. Der das Gefühl braucht, ständig den Unterschied machen zu können. Und wenn er top-fit ist, hat er auch alle Möglichkeiten dazu, für uns den Unterschied zu machen", sagte Gündogan nach der Partie, die durch das Eigentor von Mats Hummels (20. Minute) entschieden wurde . Der 30-jährige Mittelfeldspieler sprach sich damit eindeutig für mehr Vertrauen in Sane aus, zudem kann sein Plädoyer durchaus als versteckte Kritik an Löw verstanden werden.
Sane ist kein guter Joker, geht aus Gündogans Ausführungen hervor. Vielmehr braucht er das Gefühl, die volle Rückendeckung von Trainer und Team zu haben, um seine außergewöhnlichen Fähigkeiten gewinnbringend einzusetzen. "Er tut sich nicht immer leicht damit, mal für die letzten 20 Minuten ins Spiel zu kommen, in der nächsten Partie dann vielleicht in der Startelf zu stehen, aber wieder ausgewechselt zu werden", erklärte Gündogan, der zwischen 2016 und 2020 in 95 Pflichtspielen gemeinsam mit Sane für Manchester City auf dem Platz stand. "Generell ist er jemand, der das Selbstverständnis haben muss, ständig zu spielen. Gerade für ihn, der immer wieder ins Eins-gegen-Eins gehen will, Risiko eingeht und den Unterschied ausmachen will, ist das wichtig."
Dass Sane das statt Havertz im zweiten Gruppenspiel am Samstag gegen Portugal (18 Uhr im LIVETICKER) von Beginn an probieren darf, dürfte in den kommenden Tagen noch stärker zur Debatte gestellt werden als vor dem Start ins Turnier. Da hatte Havertz, der sich im DFB-Team bis dato genau wie Sane noch nie so wirklich unverzichtbar gemacht hatte, gefühlt den Bonus, dass man ihn nach seinem Siegtor im Champions-League-Finale ja gar nicht auf die Bank setzen kann.
Vor allem medial war der Tenor nach dem CL-Märchen klar: An Havertz kommt Löw jetzt nicht mehr vorbei, mit seinem Selbstvertrauen kann er sogar ein entscheidender Faktor werden.
DFB-Team: Kai Havertz enttäuscht gegen Frankreich
Der frühere Leverkusener war dann allerdings der vielleicht schwächste Spieler im DFB-Trikot, eine Bindung zu seinen Offensivkollegen Serge Gnabry und vor allem Thomas Müller suchte man vergeblich. Entsprechend harmlos endeten die meisten deutschen Bemühungen, Torgefahr zu erzeugen. Und Havertz rieb sich zwar auf, gewann allerdings nur einen einzigen seiner zehn Zweikämpfe. Auch eine Torschussvorlage war deutlich zu wenig, mit deren 38 spielte er zudem die zweitwenigsten Pässe aller deutschen Feldspieler.
Dass Deutschland sich gegen die extrem kompakt und gut verteidigenden Franzosen nur wenige Chancen erarbeiten konnte, ist nun sicherlich auch der Klasse des Gegners und vor allem nicht ausschließlich der Offensivreihe anzulasten. Dennoch belegen die Zahlen, dass sich das DFB-Team immer schwerer tut, Tore zu erzielen - was die Stimmen nach einem echten Mittelstürmer wieder verstärkt auf den Plan ruft. Nur wer soll das sein? Gnabry merkte man am Dienstagabend an, dass das Sturmzentrum nicht sein bevorzugtes Wirkungsgebiet ist. Kevin Volland ignorierte Löw jahrelang und brachte ihn gegen Frankreich für die letzten Minuten seltsamerweise als Linksverteidiger. Bliebe noch Timo Werner, der nach seiner Einwechslung aber ebenfalls zahnlos auftrat und in seinen letzten sechs Länderspielen nur einen eigenen Treffer bejubeln durfte.
Fakt ist: Deutschland hat in seinen letzten sechs Turnierspielen gerade mal drei Tore erzielt, eines im EM-Viertelfinale 2016 gegen Italien und zwei bei der WM 2018 gegen Schweden. Auffällig war dabei immer wieder der Mangel an Durchschlagskraft in direkten Duellen und die fehlende Kompetenz, in dicht stehende Defensiven Lücken zu reißen. Umso kritischer darf beäugt werden, dass Löw mit Sane den in dieser Hinsicht vermutlich fähigsten Spieler, den er im Kader hat, so lange draußen ließ.
Und umso logischer erscheint Gündogans Aufruf, dem 25-Jährigen jenes Selbstverständnis zu geben, das er braucht. Wenn er das bekommt, sei Sane "unglaublich", betonte Gündogan. "Auch bei City hat man damals das Gefühl gehabt, es führt kein Weg an ihm vorbei. Und so war es ja auch. Wir sind hier, um ihm zu helfen, wir unterstützen ihn und wissen, wie gut er ist, wie gut er uns tun kann. Er selbst weiß das auch."