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Carlos Alcaraz: Perfekte Kombination aus Hirn, Herz und Cojones
"Alcaraz wird in spätestens drei Jahren die Nummer 1", postete der frühere Grand-Slam-Champion Yevgeny Kafelnikov im September 2021 auf Twitter. Trotz des schon damals klar sichtbaren Talents eine gewagte Aussage, schließlich war der Teenager erst ein paar Monate zuvor 18 Jahre alt geworden. Jetzt sind die drei Jahre auf eines zusammengeschrumpft - damit hätte niemand gerechnet, nicht einmal Kafelnikov. Die Geschwindigkeit, mit der Alcaraz Rekorde pulverisiert, ist fast schon schwindelerregend.
- Bis Februar 2024 hätte "Carlitos" Zeit gehabt, um Lleyton Hewitt als jüngste Nummer eins der Geschichte abzulösen
- Nach Pete Sampras (dem er in New York teilweise verblüffend ähnlich sah) ist er der zweite Teenager, der in der Open Era die US Open gewinnt
- Er ist der jüngste Grand-Slam-Champion seit Rafael Nadal 2005 bei den French Open
- Mit drei Fünfsatzmatches auf dem Buckel hatte zuletzt Gustavo Kuerten 1997 ein Grand-Slam-Finale gewonnen
Am Sonntag vor dem Finale schickte Alcaraz ein paar Emojis über die sozialen Medien in die weite Welt hinaus, mit denen er offenbar sich selbst bzw. sein Erfolgsrezept beschreiben wollte: Ein Herz, ein Hirn - und zwei Hühnereier.
Herz: Unfassbar, was für ein Fighter der Kerl ist. Gegen Sinner hatte er einen Matchball abgewehrt, reihenweise musste er in der Night Session zu Zeiten spielen, als sein Finalgegner längst im Bett war. Das war ihm dann im zweiten und dritten Satz auch anzusehen. Aber statt mit dem Schicksal zu hadern, marschierte Alcaraz weiter - und zwar nach vorn. Eine andere Richtung kennt er nicht.
Hirn: Zugegeben, der eine oder andere Stoppball war im Finale zu viel. Aber wie überlegt Alcaraz in seinen jungen Jahren schon spielen kann - trotz der brachialen Gewalt in seinem Waffenarsenal - ist bemerkenswert. Von einem kurzen emotionalen Ausbruch im zweiten Satz abgesehen blieb er immer bei sich. Natürlich, manchmal ist er noch zu wild, geht zu schnell auf den Winner. Aber viel mehr gibt es da schon nicht mehr zu bemängeln.
Cojones: Angst? Kennt Carlos Alcaraz nicht. Wie er auf Serve-and-Volley umschwenkte, um die Punkte kurz zu halten. Wie er sich von seinen Fehlern nicht entmutigen ließ, oder von seinen müder werdenden Beinen. Wie er es schlicht und ergreifend nicht zuließ, dass Ruud das Ruder an sich reißen konnte. Wahnsinn.
Zu bemängeln gibt es maximal, dass er keine zusätzliche Pferdelunge postete: Noch nie in der Geschichte des Tennis verbrachte ein Spieler in einem Turnier so viel Zeit auf dem Court (23 Stunden und fast 40 Minuten). Oder eine Rakete. "Ich habe noch nie gegen jemanden gespielt, der sich so gut bewegt wie er", sagte Frances Tiafoe nach dem Halbfinale. Und der hat immerhin auch schon gegen Nadal und Djokovic gespielt.
"Ich genieße es, den Pokal in meinen Händen zu halten. Aber natürlich bin ich hungrig auf mehr", sagte Alcaraz nach seinem Triumph.
Für die Konkurrenz kann es nur beängstigend sein, wie rasend schnell sich Alcaraz entwickelt hat. Nein, er spazierte ganz sicher nicht durchs Turnier, stand mehrfach kurz vor dem Aus. Er ist noch schlagbar. Aber das ist vielleicht das Zauberwort: noch.
Alcaraz' Coach Juan Carlos Ferrero ist sich jedenfalls sicher, dass das längst noch nicht alles ist. Sein Schützling sei gerade einmal bei "60 Prozent seines Spiels" ...
Casper Ruud droht ein bitteres Schicksal
Casper Ruud muss man ein großes Kompliment zollen: Nach den French Open erreichte der Norweger sein zweites Grand-Slam-Finale in diesem Jahr, das hätten ihm sicherlich die wenigsten zugetraut. Seinen zweiten Platz in der Weltrangliste hat er sich redlich verdient, nur er und Alcaraz haben in den vergangenen 52 Wochen mehr als 60 Matches gewonnen.
Auch im Finale schlug er sich trotz seiner Außenseiter-Rolle mehr als wacker, machte die Mehrzahl der Highlight-Punkte - und wer weiß: Hätte er einen seiner zwei Satzbälle beim Stand von 6:5 im dritten Durchgang genutzt, würde die Trophäe vielleicht gerade in seinen Armen liegen. In Paris war er gegen Nadal noch chancenlos (3:6, 3:6, 0:6) und wirkte froh, dabei sein zu dürfen. Diesmal schien ihn die Niederlage deutlich mehr zu schmerzen. Verständlicherweise.
Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass im auf dem Weg ins Finale das Glück hold war und ihm die ganz großen Brocken erspart blieben: Auf einen Top-10-Spieler traf er jeweils erst im Finale, wo er dann den Kürzeren zog. Ein derartiges Kaliber hat er bei einem Slam übrigens noch nie schlagen können. Und auch noch nie einen Titel über dem 250er-Level gewonnen.
Ruud ist nicht einmal 24 und hat in den vergangenen knapp eineinhalb Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht - wer weiß, wo am Ende sein spielerisches Limit liegt. Aber wer ihn gegen Nadal und jetzt gegen Alcaraz gesehen hat, der weiß, dass ihm die ganz großen Waffen fehlen.
Kann sich der Norweger in seinem Level nicht noch einmal steigern, könnte er der "David Ferrer" der neuen Generation werden: Ein großartiger Spieler, für den die Schwergewichte seines Sports aber dann doch eine Nummer zu groß sind. Das wäre keine Schande: Der Spanier Ferrer, 2019 zurückgetreten, gewann in seiner Karriere 27 Titel und über 31 Millionen Dollar Preisgeld. Aber er erreichte eben auch nur ein Grand-Slam-Finale - fünfmal war im Halbfinale Schluss, elfmal im Viertelfinale.
Aus einem guten Draw und einem erschöpften Finalgegner konnte Ruud diesmal kein Kapital schlagen. Bessere Bedingungen für einen Grand-Slam-Coup dürfte er so schnell nicht wieder bekommen.