"Scheiße, was ist los mit der Welt"

Von Christoph Köckeis
2005 beendete Andreas Goldberger seine aktive Karriere
© getty

Mit roten Bäckchen, engelsgleichem Antlitz und kessen Tönen verzückte Andreas Goldberger einst seine Fanschar. Gleichwohl widerfuhren dem Strahlemann auch dunkle Zeiten. Im Interview spricht der nunmehr 41-Jährige über den gesellschaftlichen Absturz, die hässliche Fratze des Lebens und Sammeltransporte in die Klinik. Plus: "Goldis" schönste Momente auf den größten Schanzen der Welt.

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SPOX: Herr Goldberger, in Harachov frönt die Adler-Szene ihrer Passion: dem Skifliegen. Sie sollen das Gefühl mit jenem, welches einen im Bett mit einer Frau überkommt, verglichen haben. Würden Sie es als verheirateter Mann abermals derart offensiv formulieren?

Andreas Goldberger: Habe ich das wirklich? Es ist sogar schöner (lacht). Nein, man kann es mit nichts vergleichen. Skifliegen ist, wenn alles gut geht, lässig und traumhaft. Du hast den Kick. Höhere Geschwindigkeiten, mehr Luftkräfte. Jeder Fehler kann der letzte sein und eine gravierende Kettenreaktion nach sich ziehen.

SPOX: Welche Gedanken schwirrten Ihnen früher auf dem Zitterbalken durch den Kopf?

Goldberger: Stimmt die Form und das Wetter, strotzt du voller Vorfreude und wartest auf die grüne Ampel. Wenn du losfahren darfst, bist du froh, dieses unglaubliche Gefühl erleben zu dürfen. Du bist bestimmt nervöser als auf anderen Schanzen. Das ist aber auch gut, denn dadurch ist man konzentrierter bei der Sache. Bei schlechten Verhältnissen kann es wirklich zur Qual werden.

SPOX: Bevor Sie sich abstießen, folgte Ihr Ritual.

Goldberger: (lacht) Jeder verfügt über eines. Ich zog mir den rechten Ski zuerst an. Danach richtete ich mir die Skibrille, rieb meine Nase und fasste mir nochmals an die Bindung. Für mich war das ein wichtiger Moment. Ich baute Spannung auf, hatte den Tunnelblick, war voll entschlossen. Es war, als würde man einen Anker setzen: Jetzt kann's losgehen, jetzt geht's um was. Du brauchst eine gewisse Routine in diesen Sekunden.

SPOX: "Du spürst anfangs nicht, ob es am Ende hinhaut", sagten Sie einst. Wann merkt man es denn?

Goldberger: Bei etwa 80 bis 90 Metern. Du fährst mit hundert Stundenkilometern über den Schanzentisch, da hast du keine Zeit zu überlegen, musst gnadenlos durchziehen. Wenn du unmittelbar Rückmeldung erhalten würdest, ob die optimale Flugposition erreicht ist, steckst du 20 Meter später mitten im Fehler. Du musst voraus denken, sonst hinkst du hinterher. Am Limit kannst du nicht überlegen, ob das jetzt gut oder schlecht war. Du musst das Vertrauen haben, sowieso alles richtig zu machen. Aber es nicht bewusst steuern.

SPOX: Eine Unachtsamkeit, ein falsche Bewegung kann lebensbedrohliche Konsequenzen nach sich ziehen. Wie aufreibend sind derartige Skiflug-Wochenenden?

Goldberger: Sicher anstregender als normale. Körperlich, weil du viel länger die Spannung halten musst, die Kräfte stärker einwirken. Da tut dir danach schon mal alles weh. Außerdem ist die mentale Belastung wesentlich größer. Es ist ein Risiko. Wenn du einen super Sprung zeigst, hast du positive Ausschüttungen. Wenn es schlecht läuft, ist das Gegenteil der Fall. Ich merkte es meistens in der Nacht: Nach einem Skifliegen fiel es mir viel schwerer, ruhig zu schlafen. Das Unterbewusstsein arbeitet da brutal nach.

SPOX: 1992 durchschritten Sie in Harachov bei der WM die Hölle: Erst der Horror-Sturz in die Klinik, danach Medaillen-Freuden am Krankenbett. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Goldberger: Für mich ist Harachov die wildeste Schanze. Die Anfahrtsgeschwindigkeit ist sehr hoch, der Lufstand ob der atypischen Flugkurve ebenfalls. Du kannst hinkommen bei bestem Wetter. An den nächsten Tagen schlägt es um. Wir erlebten das dort mehrmals. Dazu ist sie windanfällig, das macht sie sehr gefährlich. Damals lief es im Training gut. Beim Wettkampf herrschte ein Sauwetter. Es war neblig, sehr feucht und windig. Du hast vom Zitterbalken nicht einmal auf den Trainerturm gesehen. Deshalb standen die Betreuer weiter oben, um das Freizeichen zu geben. Ich war top vorbereitet, die besten zwei von drei Versuchen an einem Tag wurden gewertet. So war das Reglement. Im letzten Durchgang griff ich nochmals voll an. Der Sprung wäre sehr gut gewesen, das merkte ich in der Luft. Es ging richtig dahin. Allerdings war es sehr windig. Plötzlich kam eine Böe...

SPOX: Und riss Ihnen den Ski förmlich weg...

Goldberger: Irgendwann merkte ich, das geht sich nicht aus. Dann hat es mich überschlagen, richtig auf die Birne gehauen. Ich purzelte runter, machte im Auslauf die Augen auf und hoffte nur: "Bitte lass' mich alles spüren." Ich war damals nicht der Einzige. Letztlich flogen sie uns zu Dritt mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus. Das war ein Sammeltransport. Ich hatte Glück, brach mir nur den Arm und das Schlüsselbein. Tagsdarauf kam Christof Duffner zu Sturz. Es wurde abgebrochen und nur Tag eins gewertet. So bekam ich Silber im Krankenbett.

SPOX: Gold eroberte ein gewisser Noriaki Kasai. Über zwei Jahrzehnte später gehört er, der knapp sechs Monate älter ist als Sie, abermals zum engsten Zirkel der Titel-Aspiranten. Was macht ihn so zeitlos?

Goldberger: Wie lange er sich in der Weltspitze hält, ist genial. Sein Durchhaltevermögen ist echt vorbildhaft. Er muss wahnsinnig gut trainieren, seinen Körper bestens kennen. Sonst geht das nicht. Das Wichtigste jedoch: Der Sport muss dir riesigen Spaß bereiten, um sich Tag für Tag zu überwinden. Alleine wenn du bedenkst, welche Vielzahl an Regeländerungen er miterlebt hat. Ob klassichen oder V-Stil. Zuletzt stoppte ihn eine kleine Knieverletzung. Oft verzichtet er auf Trainingssprünge, aber in den Wettkämpfen schneidet er sensationell ab. Dank der Routine weiß er genau, wann er eine Pause benötigt, wann er dosieren sollte. Dass er das Skifliegen beherrscht, zeigte er mit dem Sieg am Kulm. Er hat ein unglaubliches Selbsvertrauen und seine Technik ist zuverlässig. Für mich ist er 22 Jahre später in Harachov einer der Topfavoriten.

SPOX: Mit Skifliegen assoziieren Sie mehrere Höhepunkte: Am 17. März 1994 segelten sie in Planica auf 202 Meter. Als erster Mensch knackten Sie die magische Marke, wenngleich Toni Nieminen in die Annalen einging. Waren Sie verägert?

Goldberger: Mein Sprung wurde nicht gewertet, da ich in den Schnee griff. Zu dem Zeitpunkt wäre es aber unmöglich gewesen, ihn zu stehen. Die letzte Weitenmarkierung war bei 170 Metern, die Schanze nicht fertig präpariert. Das war schon heftig. Im nächsten Durchgang hätte ich wohl keine Problem gehabt, da war alles bereit. Nur kam mir Toni zuvor.

SPOX: Zwei Jahre später erreichten die Goldi-Huldigungen ihren Höhepunkt. In der Heimat. Vor frenetischem Publikum. Auf dem Kulm. War es das beste Wochenende Ihres Lebens?

Goldberger: Hoffentlich kommen noch ein paar gute Wochenenden (lacht). Es war definitiv etwas Besonderes. Jeder hat in seiner Kindheit Ziele, ob ein WM-Titel oder ein Weltrekord. Der Kulm war meine Heimat, eine ganze Nation erwartete Gold. Wenn du das vor eigenem Publikum, nach einem total spannenden Wettkampf schaffst, bist du schon stolz darauf.

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