Jeder kennt ihre Geschichte - zumindest die leicht verklärte Disney-Variante. DIE Geschichte der Winterspiele 1988 war nicht etwa die Medaillendominanz der Sowjetunion; es ist das jamaikanische Bob-Team, das bis heute als erstes in den Sinn kommt, wenn man an die Worte "Olympia" und "Calgary" denkt. Und das hat nur bedingt etwas mit ihren sportlichen Leistungen zu tun.
Die Jamaikaner erreichten im Zweierbob den 30. von 41 Plätzen, im Viererbob wurden sie mit einigem Abstand letzter. Bobfahren ist eben schwierig, wenn eines der Teammitglieder die halbe Strecke über steht oder wenn man das Gerät nach einem Sturz ins Ziel schieben muss.
Ihre Geschichte lebt trotzdem weiter, weil sie dermaßen unwahrscheinlich und ungewöhnlich war. Das Bob-Team bestand nicht aus Bob-Fahrern, eigentlich sogar nicht einmal aus Sportlern. Die Ausrüstung mussten sich die Cool Runnings von anderen Olympioniken leihen. Und dann war da noch die Tatsache, dass es in Jamaika keinen Schnee gibt...
Geboren aus einer Schnapsidee
Der Legende nach wurde das Team aus einer Idee von zwei amerikanischen Geschäftsmännern namens George B. Fitch und William Maloney heraus geboren. Die hatten sich bei einem Jamaika-Besuch das dort beliebte Seifenkistenrennen angesehen und die Parallelen zum Bob-Sport erkannt - das Fundament war gelegt.
Für beide Sportarten ist ein schneller Start essenziell, und herausragende Sprinter gibt es in Jamaika bekanntlich nicht erst seit Usain Bolt. Also fragten die beiden Amerikaner zunächst bei den Olympioniken dieser Disziplin an, ob sie nicht Lust hätten, bei den Winterspielen als Bob-Fahrer anzutreten. Hatten sie nicht.
Also wandten sie sich ans jamaikanische Militär. Dort kam die Idee besser an - die Soldaten Devon Harris, Dudley Stokes, Michael White und Samuel Clayton wurden zum "Bob-Dienst" abbestellt und begannen fortan ihr unkonventionelles Training. "Ich hielt das damals für die beknackteste Idee aller Zeiten", gab Harris später mit einem Schmunzeln zu.
In Jamaika gibt es logischerweise keinen Schnee, weshalb der dazugewonnene amerikanische Trainer Howard Siler ihnen verordnete, daheim weiter Sprint-Training zu nehmen. Zudem gab es Ausflüge nach Calgary und Innsbruck, damit die Athleten die Möglichkeit bekamen, sich wenigstens mal zu testen - in einem echten Bob auf einer echten Bahn.
Der Olympische Gedanke
Als die Winterspiele dann vor der Tür standen, waren die Jamaikaner trotz aller Vorbereitung natürlich immer noch unerfahren. Allerdings wurden sie von der Olympischen Familie bestens aufgenommen, bekamen Ratschläge und sogar Ausstattung von anderen Olympioniken. Das Publikum erkannte die Cool Runnings früh als das, was sie waren: Die Attraktion von Calgary.
Noch nie hatte eine karibische Insel ein Bob-Team zu Olympischen Spielen geschickt. Sie waren himmelweiter Außenseiter, versprühten trotzdem gute Laune und das berühmte jamaikanische Flair. Die besten Zutaten, um zum Publikumsliebling Nummer eins zu werden.
Sportlich lief es bekanntlich nicht ganz so gut. Zwar legten sie in der Vierer-Disziplin den siebtbesten Start hin, auf der Strecke kippten sie allerdings um - "auf eine spektakuläre Weise, wie nur Jamaikaner es können", sagt Harris. Im Disney-Film war die Ursache des Sturzes im Material begriffen, in Wirklichkeit war es ein Fahrerfehler.
Aber das war nebensächlich. Wie die Jamaikaner ihren Bob in Richtung Ziellinie zogen und dabei den Zuschauern an der Bande High-Fives gaben, bleibt bis heute im Gedächtnis. Und so nahm die Geschichte ihren Lauf: Die Geschehnisse wurden im Film "Cool Runnings" relativ frei nacherzählt, die jamaikanischen Bob-Fahrer haben bis heute eine treue Fan-Basis, die beständig wächst.
Inspiration für Nachahmer
Der vielleicht größte Erfolg dieser Zeit aber war die Tatsache, dass der Auftritt keine einmalige Schnapsidee, kein One-Hit-Wonder war. Die Jamaikaner kehrten bei den folgenden Spielen zurück, 1992 gelang ihnen sogar ein sensationeller 14. Platz vor etablierten Nationen wie den USA, Frankreich oder Russland.
Zudem inspirierten sie zahllose Menschen auf der ganzen Welt und vor allem in Jamaika. Wie zum Beispiel den Skifahrer Michael Williams, der im SPOX-Interview verriet: "Die Geschichte von den vier Bobfahrern kennt auf Jamaika fast jeder. Wie die Jungs den Eiskanal runtergefahren sind, hat mich damals sehr stolz gemacht. Und mir gezeigt: Man kann alles im Leben schaffen, wenn man ganz fest an sich glaubt."
Harris, der heutzutage öfter mal als Redner in der Welt unterwegs ist, berichtet folgendes: "Nach einer Rede kam einer aus dem Publikum zu mir und erzählte mir, dass seine 10-jährige Tochter seit Ewigkeiten lernen wollte, wie man Schlagzeug spielt. Nachdem sie dann 'Cool Runnings' gesehen hatte, war sie von unserer Geschichte so angetan, dass sie endlich Nägel mit Köpfen gemacht und angefangen hat, richtigen Unterricht zu nehmen. Es gibt so viele Geschichten dieser Art."
Und heute? Von 1988 bis 2002 waren die Jamaikaner bei allen Winterspielen dabei, 2006 waren sie erstmals nicht mehr am Start. In Sotschi will "The Hottest Thing On Ice" jedoch zurückkehren und baut dabei auch auf Unterstützung aus Deutschland: Seit Februar 2013 ist der deutsche Regisseur David Vehreschild Manager des Teams, auch die Ausrüstung wird in Deutschland fabriziert.
Rückkehr in Sotschi?
Der 19. Januar ist der Stichtag, an dem Jamaika unter den Top 50 stehen muss, um in Sotschi dabei zu sein. Kapitän ist dabei der 46-jährige Pilot Winston Watts, der schon '94, '98 und '02 dabei war und für dieses ambitionierte Projekt reaktiviert wurde. "Wir wollen da rausgehen und der Welt zeigen, dass es uns noch gibt und dass wir es auch können", sagt der Bob-Oldie.
Vor kurzem setzte er die Qualifikation indes selbst aufs Spiel. Als eine obligatorische Sitzung der Team-Kapitäne anstand, schlief Watts auf seinem Zimmer und musste von Vehreschild aus dem Bett gezerrt werden. "Der schlurfte dann mit Badelatschen und einer Tüte Popcorn in die mondäne Sitzung", sagte der Manager. Aber genau das macht eben den Mythos der Exoten im Eis aus.
Die Grundlage für diesen Mythos entstand 1988. Durch eine Truppe, die in Calgary auffiel wie ein bunter Hund, die Schnee nur aus dem Reiseführer kannte und die daher bei Winterspielen eigentlich nichts zu suchen hatte. Eine Truppe, die sich all diesen Widrigkeiten zum Trotz durchsetzte und sich einen Traum erfüllte.
Harris, der die Idee von einem jamaikanischen Bob-Team einstmals für verrückt hielt, hat 2006 ein Kinderbuch geschrieben, in dem er die Ereignisse von Calgary aus seiner Sicht erzählt. Der Titel, den er dafür gewählt hat, passt für die Wirkung, die die Jamaikaner in Calgary erzielt haben, wie die Faust aufs Auge: "Yes, I can!"