Am 16. Juni 1976 saß Thomas Oliver Newnham fassungslos vor dem Fernseher. Dem Lehrer rannen Tränen die Wangen hinunter und sein ernstes Gesicht trug unter der runden Brille tiefe Trauer. Einige Stunden vorher hatten sich über 12.000 Kilometer entfernt in Soweto, dem an diesem Tag berühmt gewordenen Zusammenschluss von Townships in Johannesburg, die Szenen abgespielt, die den neuseeländischen Lehrer zum Weinen gebracht hatten.
Tausende Schüler hatten sich unter der Führung des 19-jährigen Tsietsi Mashinini formiert, um gegen die Apartheid zu protestieren. Also gegen jene Rassentrennung, die das Land unterjochte, während man in vielen Teilen Europas die Nachkriegs-Demokratie feierte. 48 Polizisten, darunter acht Weiße, schlugen den Protestmarsch blutig nieder. Es sollen Steine geflogen sein, die die Gewalt auslösten.
Tragödie von Soweto
Weil als Folge der ersten Toten die Bewohner in Orlando und anderen Townships in Soweto ihre Wut an Weißen entluden und etwa Bierhallen attackierten, weil sie Alkohol als Betäubungsmittel ansahen, das die Schwarzen ruhig stellen sollte, wurde das Polizei-Aufgebot auf rund 1500 Beamte aufgestockt, die ohne Vorwarnung auf die Menge der Protestierenden, der sich längst auch Tausende Ältere angeschlossen hatten, schossen.
575 Menschen starben, fast 4000 wurden verletzt, darunter zahlreiche Kinder. Hunderte Schüler wurden festgenommen und unter Folter verhört, um die Initiatoren des Aufruhrs zu ermitteln. Der blutige Junitag im Jahr 1976, dessen Bilder im Fernseher Newnham zum Weinen brachten, waren der Auftakt von zwei Jahren Protest in vielen Townships in ganz Südafrika gegen die menschenunwürdige Apartheid.
Weltweite Proteste
Die Bilder bewegten nicht nur Newnham, sondern sorgten auf der ganzen Welt dafür, dass der Protest gegen Nicolaas Diederichs und die National Party sich weltweit von einer radikalen Minderheit auf die breite Masse ausweitete.
Südafrikanische Produkte wurden boykottiert und überall wurden Bewegungen gegründet, um sich gegen den Wahnsinn zu erheben, der durch das berühmte Bild des toten 12-Jährigen Hector Pieterson in den Armen eines Mitschülers ein kaum zu ertragendes Gesicht bekommen hatte.
Die Gunst der Stunde
Auch Thomas Newnham, politischer Aktivist, der sich seit Jahren gegen die Apartheid auflehnte, nutzte die Gunst der Stunde, um neue Anhänger zu gewinnen.
Er ließ Plakate drucken, die den toten Pieterson zeigten - und die Zahlen seiner Organisation "Citizens Association for Racial Equality (CARE)" wuchsen stetig an, sodass sie später durch den "Rugby-Krieg" zur größten Pro-Kopf-Anti-Apartheid-Bewegung der Welt wurde und Neuseeland zum ausländischen Zentrum des Widerstandes.
Ausgerechnet Neuseeland, das die Heimat der indigenen Natives Maori ist, die erst in den Sechziger-Jahren als vollwertige politische Kraft anerkannt wurden.
Rugby wird politisch
"Durch die Proteste gegen den Rassismus wuchsen Weiße und Maori zusammen, weil sie zu einer Einheit verschmolzen, deren Ziel die Einhaltung der Menschenrechte war", schreibt der New Zealand Herald. Eine weitere Säule dieser Verschmelzung, derer Popularität sich auch Newnham annahm, war die Volkssportart Rugby, bei der Maori und Weiße gemeinsam ihr Land vertraten und unter dem legendären Namen All Blacks zum besten Team der Welt wurden.
Südafrika war ebenfalls eines der besten Teams der Welt, es war üblich, dass in Zeiten des Amateur-Rugbys, in denen es keine Weltmeisterschaften gab, die Teams zu Touren in andere Top-Nationen reisten und dort Länderspiel-Serien starteten. Es war nur logisch, dass Neuseeland in jahrzehntelanger Tradition nach Südafrika flog. All Blacks gegen Springboks. Zwei große von Briten modellierte Nationen.
Bereits 1960 protestierte man unter der Schirmherrschaft von Newnham gegen die Tour der Springs Boks nach Neuseeland und vor allem gegen den Ausschluss der Maori, die wegen Kriterien der Apartheid nicht nominiert wurden.
"No Maori, No Tour", lautete der Slogan der Kritiker, die jedoch nur eine kleine Minderheit bildeten, während der Großteil der Bevölkerung die Ereignisse als normal abtat oder wenig Interesse zeigte. 1969 gründete man "Halt All Racist Tours (HART)", eine Organisation, die gegen jeden sportlichen Kontakt mit Südafrika protestierte.
1976 als Wendepunkt der Proteste
Das Jahr 1976 änderte alles. Nur etwa zwei Wochen nach dem Tod von Pieterson und den Schüssen von Soweto machten sich die All Blacks auf zu einer Tour nach Südafrika.
Dieses Mal wurde nicht weggeschaut. Dieses Mal wurde der Sport zum Politikum, dieses Mal erhob man sich kollektiv. Gegen den Rassismus und gegen Premier Robert Muldoon, der die Tour im Gegensatz zu Vorgänger Kirk 1973 zuließ.
Den Maori im Kader, Billy Bush, Sid Going, Kent Lambert, Bill Osborne und Tane Norton sowie Bryan Williams mit samoanischer Abstammung, wurde in Südafrika der Status vollwertiger Weißer, sogenannter Honorary whites, gestattet, sodass sie die zu den ersten Polynesiern wurden, die in Südafrika trotz der Apartheid spielten.
Steine fliegen
Denn die Tour wurde trotz aller Wut durchgeführt. Das Echo auf diese Ungeheuerlichkeit war groß. Steine flogen und selbst westliche Politiker bezogen Stellung. SPD-Mann Hans-Jürgen Wischnewski etwa verlangte als Reaktion auf die Forderung von über 30 afrikanischen Staaten, Neuseeland von Olympia auszuschließen.
Nationaltrainer John Joseph Steward versuchte noch, die Politik vom Sport fernzuhalten: "Maori oder weiß? Das ist mir völlig egal. Nur ein verdammter Idiot würde die Hautfarbe der Schnelligkeit oder der Kraft eines Spielers vorziehen. Aber die Tour absagen? Wir spielen nur Rugby. Sonst nichts, das ist alles", sagte die Trainer-Legende. Für eine Trennung aber war es längst zu spät.
Nur sportliche Konsequenzen
28 afrikanische Länder boykottierten, wie angekündigt, die Spiele, weil Neuseeland teilnehmen durfte, "weil Rugby kein olympischer Sport" sei. "Ein großer Schritt", sagte Ikone Nelson Mandela später zum Boykott, ein großer Schritt gegen die "Herrschaft der Gewehre und der Henker." Wegen des Boykotts war vor allem in den Leichtathletik-Disziplinen ein großer Qualitätsverlust zu spüren - ein schwerer Schlag für Publikums-Magneten wie die Sprint-Disziplinen oder den Marathon-Lauf.
Und nicht nur Afrika reagierte, sondern auch die Commonwealth-Staaten. Als Reaktion auf die Tour wurde fast ein Jahr nach dem Aufstand in Soweto, der so viele Tote auf den staubigen Boden geschickt hatte, in Schottland die Gleneagles-Vereinbarung unterzeichnet, die jeglichen sportlichen Kontakt zu Südafrika ächtete.
"Wir schauen nicht weg, auch nicht im Bereich Sport. Es ist unsere Aufgabe zu handeln", kommentierte der Geistliche und Anti-Apartheidskämpfer Ambrose Reeves den Kontrakt von Gleneagles.
Von den Hügeln des Kingdoms ging ein Gefühl der Solidarität aus. Die Regierungschefs hatten Flagge gezeigt, der Sport war zur politischen Plattform geworden. Über das Sportliche hinaus wurde jedoch in Angesicht der unfassbaren Verletzung des Menschenrechts in Südafrika wenig getan.
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