NBA

"Habe zwölf Jahre in einer Blase gelebt"

Von Daniel Herzog
Martell Webster sprach mit SPOX über Musik, Basketball und Familie
© getty
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SPOX: Kommen wir kurz zu Ihrer Kindheit zurück. Sie sind in Seattle bei Ihrer Großmutter aufgewachsen, weil Ihre Mutter unter mysteriösen Umständen verschwunden ist, als sie vier Jahre alt waren und Ihr Vater die Familie vor Ihrer Geburt verlassen hat - inwieweit ist die Musik auch ein Kanal für die Bewältigung Ihrer schwierigen Vergangenheit?

Webster: Meine Musik ist wie eine Zeitkapsel, die es mir erlaubt, in diese Zeit zurückzureisen und die Gefühle und Emotionen noch einmal zu erleben. Die Musik hilft mir, damit fertig zu werden, ohne Eltern aufgewachsen zu sein, speziell ohne meinen Vater. Sie ist wie eine Therapie, die mir hilft weiterzumachen. Als ich meinen Vater zum ersten Mal kennengelernt habe, zwei Wochen, nachdem ich gedraftet wurde ...

SPOX: ...diese Geschichte ist also wahr - er stand dann einfach vor Ihrer Tür?

Webster: Nachdem ich gedraftet wurde, hat meine Großmutter eine Familienfeier bei sich zu Hause veranstaltet. Ich erinnere mich noch, dass ich mich vorher etwas ausruhen wollte, als meine Schwester mich aufweckte und meinte, mein Vater stünde vor der Tür. Ich war völlig durch den Wind und überfordert mit der Situation, wollte ihn aber trotzdem sofort sehen. Ich habe zu meiner Schwester gesagt, dass ich sie und meinen Vater in ein paar Minuten bei meiner Großmutter treffe, habe geduscht, mich angezogen und bin zum Haus gefahren. Und da stand er. Es war ohne Zweifel mein Vater, ich war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem habe ich dann auch meinen älteren Bruder kennengelernt. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass ich noch einen Bruder habe. Mich hat vor allem frustriert, dass mein Vater all die Jahre wusste, wo ich war, und mich jederzeit hätte besuchen können.

SPOX: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie ihn sahen?

Webster: Ich dachte eigentlich, dass ich wütend sein würde, aber ich war einfach nur enttäuscht. Es gab so viele Situationen in meinem Leben, in denen ich einen Vater gebraucht hätte. Ich musste mir alles selbst beibringen. Als ich ihn dann zum ersten Mal sah, war ich einfach nur enttäuscht und sagte zu ihm: 'Du hättest für mich da sein sollen.' Später habe ich dann aber gemerkt, dass es vielleicht gut so war - vielleicht wäre alles noch viel schlimmer geworden. Er war eben einfach nicht bereit, Vater zu sein. Deshalb bin ich ihm auch dankbar. Er hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich hätte vielleicht niemals meine Frau kennengelernt, hätte heute nicht meine vier wunderbaren Mädchen. Vergebung ist natürlich nicht einfach, aber am Ende lohnt es sich.

SPOX: Ihr Vater hat Sie also bewusst im Stich gelassen, bei Ihrer Mutter war es anders. Ich möchte dabei nicht in die Tiefe gehen, aber man sagt, Ihre Mutter sei dem "Green River Killer" zum Opfer gefallen, ihr Körper wurde allerdings nie gefunden - haben Sie manchmal die Hoffnung, dass Sie noch am Leben ist?

Webster: Ich weiß, dass meine Mutter tot ist, denn sie hat uns geliebt und hätte uns niemals im Stich gelassen. Sie hatte keine Drogenprobleme oder irgendeinen anderen Grund, uns alleine zu lassen. Mittlerweile kann ich ganz gut damit umgehen, aber dennoch habe ich einige psychische Probleme davongetragen. Bei mir wurde zum Beispiel ein Aggressionsproblem diagnostiziert und ich bin mir sicher, dass das etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat. Ich habe meine Mutter geliebt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum ich so eine enge Beziehung zu meiner Frau und zu meinen Kindern habe. Meine Mädels bedeuten mir alles.

SPOX: Lassen Sie uns über Ihren Draft-Tag sprechen - Sie waren erst 18 Jahre alt und wurden an sechster Stelle von den Portland Trail Blazers gepickt -erinnern Sie sich noch an diesen Tag?

Webster: Am meisten erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich etwa einen Monat vorm Draft mit meiner Großmutter geführt habe. Es ging um Entscheidungsfindung. Zu dieser Zeit schossen mir nämlich viele Gedanken durch den Kopf: werde ich in der ersten Runde gepickt, bin ich ein Lottery-Pick, und so weiter. Sie sagte zu mir, dass sie unabhängig von meiner Entscheidung immer hinter mir stehen würde. Das Beste an meiner Situation sei die Chance, etwas zu tun, auf das ich mein ganzes Leben lang gewartet habe. Ich könne jederzeit zurück in die Schule gehen, aber diese Möglichkeit ergibt sich nur einmal im Leben. Es sei das, was ich immer wollte. Natürlich habe man dann auch viel Verantwortung aber irgendwann sei man in der Position, dass man sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um seine Familie kümmern kann.

SPOX: Das war 2005, der letzte Draft, bei dem High-School-Spieler direkt gezogen werden durften - war es gut für Sie, diesen schnellen Weg in die NBA zu gehen, oder wäre ein Jahr am College rückblickend doch besser gewesen?

Webster: Erfahrung ist der beste Lehrer und egal, welchen Weg ich gegangen wäre, ich hätte meine Erfahrungen gemacht. Aber es ist schon ein Sege, den direkten Weg in die NBA eröffnet zu bekommen. Es ist eine Ehre und natürlich auch eine seltene Gelegenheit. Wo Regeln gemacht werden, können Regeln auch wieder gebrochen und geändert werden, deshalb bin ich mir sehr sicher, dass es irgendwann wieder möglich sein wird, direkt nach der High School in der NBA zu spielen. Aber es ist für mich schon ein tolles Gefühl, zu wissen, dass ich einer der letzten war, denen diese Ehre zuteil geworden ist. Wenn ich jetzt allerdings noch mal vor dieser Entscheidung stünde, würde ich vielleicht tatsächlich aufs College gehen.

SPOX: Weshalb?

Webster: Einfach aufgrund der sozialen Komponente, die ich so nie erfahren habe. Andererseits hätte ich dann vielleicht nie eine solche Entwicklung genommen, hätte meine Frau nicht kennengelernt und hätte vielleicht keine Kinder. Manchmal denke ich schon darüber nach, was sonst gewesen wäre. Aber ich war damals bereit für die NBA. Das war ich im Prinzip schon mit elf Jahren, als ich gesehen habe, wie Michael Jordan 1996 in den Finals die Seattle Super Sonics auseinandergenommen hat. Das war der Moment, in dem ich beschlossen habe, Profi zu werden. Obwohl ich damals absolut kein guter Basketballer war, da können Sie meine Freunde fragen. (lacht) Ich konnte nicht mal laufen und gleichzeitig den Ball dribbeln...

SPOX: Das kann man sich schwer vorstellen.

Webster: Ich schwöre es! Aber genau das ist das Erstaunliche für mich. Wenn man den unbedingten Willen hat, etwas zu schaffen, dann können diese Träume Wirklichkeit werden. Ich habe mir immer gesagt, dass ich es schaffe, koste es, was es wolle. Ich war ein Junge, der keine besonderen Fähigkeiten hatte, aber ich war entschlossen und wollte unbedingt besser werden. Außerdem hat mir meine Herkunft geholfen, dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Ich habe das nicht alleine geschafft, es waren die Menschen, die mich großgezogen haben. Meine Familie hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.

SPOX: Ein anderes Familienmitglied spielt auch in der NBA: Jason Terry...

Webster: (fängt an zu lachen)

SPOX: Er ist doch Ihr Cousin, oder?

Webster: Wir sind nicht wirklich verwandt. Aber bei uns Spielern aus Seattle ist es so, dass wir uns alle als Familie bezeichnen. "Cousin" beschreibt das wohl am besten.

SPOX: Also hat Wikipedia mal wieder gelogen...

Webster: Ich könnte dort jetzt sofort eintragen, dass wir beide Brüder sind. (lacht) Aber Jason und ich sind nicht verwandt. Wie gesagt, alle aus Seattle gehören zur Familie. Brandon Roy, Spencer Hawes, Nate Robinson, Terrence Williams, Marcus Williams, Jamal Crawford, es gibt so viele. Isaiah Thomas und ich haben im selben AAU-Team gespielt. Wir sind alle Brüder oder Cousins, egal wie man es nennt.

SPOX: Ok, verstanden! Ihr "Cousin" Terry hat 2011 mit Dirk Nowitzki den NBA-Titel gewonnen - hat er jemals mit Ihnen über Dirk gesprochen?

Webster: Ich habe ihn nie direkt gefragt, weil ich Dirk schon persönlich getroffen und mit ihm geredet hatte. Und ich kann Ihnen eines sagen: Im Basketball-Zirkus ist er einer der bescheidensten und liebenswertesten Menschen, die ich je getroffen habe. Ich würde wahnsinnig gerne mit ihm zusammenspielen. Er hatte einen keineswegs einfachen Start in der NBA und jetzt ist er ein zukünftiger Hall of Famer - man kann vor ihm nur den Hut ziehen. Er hat einen Ring gewonnen, entgegen aller Erwartungen gegen eines der besten Teams der NBA-Geschichte. Und trotzdem ist er niemand, der das Scheinwerferlicht sucht. Er will einfach spielen. Für mich hat er einen Larry-Bird-Faktor. Er bringt seine Leistung jetzt schon über so viele Jahre. Dirk ist eine lebende Legende - ein Deutscher. (lacht) Außerdem mag er schwarze Frauen. Dieser Mann hat Stil, auf und neben dem Court.