SPOX: Raffael, Sie sind in Fortaleza im Norden Brasiliens aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?
Raffael: Wenn ich an die Zeit zurückdenke, habe ich nur ein Bild im Kopf, nämlich das, wie ich auf der Straße mit meinen Freunden Fußball spiele. Jeden Tag, es gab immer nur Fußball.
SPOX: Ihr Vater war auch Fußballprofi. Welchen Einfluss hatte das auf Sie?
Raffael: Er war sehr viel unterwegs. In Brasilien gehst du zwei oder drei Tage vor den Spielen ins Hotel, um dich zu konzentrieren. Das ist dort ganz normal. Deswegen haben wir ihn zu Hause natürlich häufig vermisst.
SPOX: Was haben Sie fußballerisch von ihm gelernt?
Raffael: Er hatte einen sehr guten Schuss. Den habe ich mir immer ganz genau angeschaut und versucht, die Technik nachzuahmen. Und ich glaube, manchmal wenn ich den Ball richtig gut treffe, kann sich mein Schuss auch sehen lassen.
SPOX: Wenn wir bei einem guten Schuss sind, müssen wir natürlich über Ihren ein Jahr jüngeren Bruder Ronny sprechen. Wie war Ihr Verhältnis in der Kindheit?
Raffael: Das war sehr eng. Wir waren rund um die Uhr zusammen, sind immer gemeinsam von Fortaleza nach Sao Paulo zu unserem Verein geflogen. Und wir waren die ganze Zeit auf der Straße, um zu kicken. Aber wir haben immer gegeneinander gespielt.
SPOX: Warum?
Raffael: Wenn wir zusammen gespielt hätten, hätte es keine Chance für die anderen gegeben. (lacht) Ich hatte meine Mannschaft, er seine und dann waren die Spiele meistens spannend.
SPOX: War damals der harte Schuss seine große Stärke?
Raffael: Ja, das war Wahnsinn. Er hatte schon als kleines Kind einen sehr harten Schuss, einen guten Pass, einfach sehr viel Talent.
SPOX: Ihre Heimat haben Sie schon mit elfeinhalb Jahren verlassen, um auf eine Fußballschule in Bahia zu gehen. Wie kamen Sie zu dieser Entscheidung?
Raffael: Ich hatte immer im Kopf, dass ich Fußballprofi werden möchte. Deswegen habe ich meine Eltern gebeten, mir zu ermöglichen, nach Bahia zu gehen, um diesen Traum zu verfolgen. Natürlich waren sie zuerst nicht begeistert, aber sie haben gesagt: 'Wenn das ist, was du möchtest, dann müssen wir das machen.'
SPOX: Aber war dieser Schritt als Kind nicht enorm schwierig?
Raffael: Auf jeden Fall. An den ersten drei Tagen waren meine Eltern noch dabei, aber danach war ich komplett alleine. Ich habe jeden Tag durchgeweint und wollte unbedingt nach Hause.
SPOX: Was hat Ihnen geholfen, diese Zeit durchzustehen?
Raffael: Meine Freunde. Wir waren ja alle in der gleichen Situation, alle waren alleine, nicht nur ich. Wir haben gemeinsam geweint und uns gegenseitig dabei geholfen, das durchzustehen. Mit der Zeit ist es immer besser geworden.
SPOX: Mit 18 haben Sie den nächsten großen Einschnitt gemacht und sind in die Schweiz zum FC Chiasso gewechselt. Wie waren die ersten Eindrücke von Europa?
Raffael: Das war wie ein Schock.
SPOX: Inwiefern?
Raffael: Plötzlich bist du in der Schweiz, weit weg von zu Hause. Und dann ist es auch noch so kalt in Europa. Ich komme aus einer Stadt in Brasilien, in der es kalte Tage nicht gibt. Niemals. In Fortaleza ist es das ganze Jahr heiß. Deswegen hat mir vor allem das Wetter zugesetzt. Die ersten Wochen waren sehr schwierig für mich, aber ich habe mich daran gewöhnt und es lief sportlich immer besser.
SPOX: So gut, dass Sie sich nach zwei Jahren bei Chiasso dem FC Zürich und damit das ersten Mal Lucien Favre anschlossen. Wie kam der Kontakt zustande?
Raffael: Sein Sohn Loic war damals bei Bellinzona und wir haben gegeneinander gespielt. Ich habe ein sehr gutes Spiel gemacht. Danach hat er zu seinem Vater gesagt: 'Bei Chiasso spielt ein guter Spieler, ein Brasilianer, pass auf den auf.' Und dann hat er Kontakt zu mir aufgenommen.
SPOX: Wie war das Kennenlernen?
Raffael: Er war von Anfang an sehr herzlich zu mir. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Er hat viel mit mir gesprochen und mich gefragt, wie es mir geht - körperlich, aber auch persönlich. Er hat sich sehr um mich gekümmert und mir in Einzelgesprächen erklärt, welchen Plan er mit mir hat. Wir haben häufig Einheiten gemacht, in denen er mich individuell gefördert hat.
SPOX: Was genau ist denn das Besondere an der Zusammenarbeit mit ihm?
Raffael: Er macht einfach alles gut. (lacht) Ich mag seine Idee vom Fußball. Er will immer nach vorne spielen. In jeder Situation, egal was passiert, soll seine Mannschaft eine spielerische Lösung finden. Das macht mir am meisten Spaß. Nicht einfach den Ball nach vorne schlagen, sondern miteinander spielen - darauf legt er enorm viel Wert und das versucht er, seinen Mannschaften zu vermitteln.
SPOX: Wie würden Sie Ihr persönliches Verhältnis nach so vielen gemeinsamen Jahren beschreiben?
Raffael: Sehr, sehr gut. Für mich ist Favre ein Vater geworden. Ich habe ihm beinahe meine ganze Karriere in Europa zu verdanken.
SPOX: 2008 sind Sie ihm zu Hertha BSC gefolgt. Wie lief das ab? Kam der Verein auf Sie zu oder hat Favre Sie direkt angesprochen?
Raffael: Er hat mich tatsächlich persönlich gefragt. Ich hatte zu dieser Zeit auch andere Angebote, der FC Zürich wollte mich nach Russland verkaufen. Aber ich habe mich dagegen gewehrt. Wegen Lucien wollte ich unbedingt nach Berlin. Sie dürfen nicht unterschätzen, wie viel es für einen Fußballer ausmacht, wenn er den Trainer kennt und gut mit ihm zusammenarbeiten kann. Außerdem war die Stadt reizvoll. Und Deutschland ist in Europa noch einmal eine andere Hausnummer als Russland. Ich wollte unbedingt in die Bundesliga.
SPOX: In der Stadt Berlin haben Sie sich sehr wohl gefühlt.
Raffael: Ich habe noch immer gute Kontakte dorthin. Meine beiden Söhne sind in Berlin geboren. Dort gibt es einfach alles und man kann alles machen: Essengehen, Ausgehen, Spazieren, Berlin hat eine große Geschichte und die Leute dort sind sehr offen. Berlin ist eine faszinierende Stadt.
SPOX: Nach dem Abstieg 2010 mit der Hertha gab es Gerüchte, dass Sie den Verein wieder verlassen könnten. Am Ende sind Sie jedoch geblieben und mit in die 2. Liga gegangen. Was hat den Ausschlag gegeben?
Raffael: Mein Bruder ist gekommen. (lacht) Ich habe zum Verein gesagt: 'Wenn mein Bruder kommt, bleibe ich, wenn nicht, gehe ich.' So einfach war das. Dass es dann wirklich geklappt hat, war super. Ich hätte ehrlich gesagt nie geglaubt, dass ich einmal im Profibereich mit Ronny zusammenspielen würde. Dass wir dann zwei Jahre zusammen in einem Verein waren, war die Erfüllung eines Kindheitstraums. Ob im Training oder im Spiel - er weiß, wie ich denke, wohin ich den Ball möchte. Ronny und ich haben einen gemeinsamen Geist.