SPOX: Ist die Wahrnehmung von Zuschauern also oft "falsch", Stats dagegen immer "richtig"?
Engelmann: Die Wahrheit liegt meistens irgendwo dazwischen. Man muss sich da auch manchmal einzelne Fälle genauer anschauen. Kevin Durant hatte in den ersten zwei Jahren furchtbare Stats. Da war der Eye Test auf jeden Fall sehr sinnvoll (lacht). Das reine Plus-Minus sah ihn als einen der zehn schlechtesten Spieler der Liga. Obwohl er noch sehr jung war, hätte man statistisch wahrscheinlich nicht vorhersagen können, dass er einmal einer der besten Spieler überhaupt werden würde. Aber er war riesengroß, superschnell, konnte Dreier werfen... Das konnte man natürlich schon sehen.
SPOX: Was ist denn die größte Schwachstelle der heute verfügbaren Advanced Stats?
Engelmann: Das ist wohl das Messen von Defense. Man könnte sicherlich noch einiges verbessern, wenn man noch mehr und vor allem bessere Daten sammeln und nutzen würde.
SPOX: Da bieten ja schon die auf stats.nba.com öffentlich zugänglichen Daten noch viel Potenzial, das bisher kaum ausgeschöpft wird...
Engelmann: Auf jeden Fall. Beispielsweise gab es lange Zeit keine Zahlen, wie viele Offensivfouls ein Verteidiger gezogen hat. Das ist aber natürlich nicht ganz unwichtig für die Defense. Auch der Unterschied zwischen Rebounds nach Feld- und nach Freiwürfen ist ein Detail, das sich auf die Verteidigung auswirkt. Defensivrebounds nach Freiwürfen hängen kaum mit guter Defense zusammen. Auch wenn sie Russell Westbrook zu vielen seiner Triple Doubles verholfen haben.
SPOX: Lassen Sie uns noch einmal nach Phoenix zurückgehen. Wie wurden Sie dort als "doppelter Außenseiter" aufgenommen - als Europäer, der noch dazu nicht aus dem Profi-Basketball kommt, also kein "Basketball Guy" ist?
Engelmann: (lacht) Wie ich bei den Suns aufgenommen wurde erklärt auch, warum ich schon nach drei Monaten wieder gekündigt habe. Mein direkter Chef, der inzwischen beim FC Chelsea gelandet ist, war super, die tägliche Arbeit hat wirklich Spaß gemacht. Aber wie bei vielen Teams wurde auch bei den Suns die Analytics-Abteilung von den Besitzern ins Leben gerufen, während das Front Office sich davon eher bedroht fühlte. Schließlich hatte es bis dahin die alleinige Macht über das Scouting und den Kader.
Meine Spielerbewertungssysteme kamen also nicht wirklich gut an. Auch für Tradevorschläge habe ich viel negatives Feedback bekommen. Wir waren da einfach überhaupt nicht auf einer Linie. Ich hatte das Gefühl, dass manche im Management keine andere Sicht auf Basketball hatten als der durchschnittliche Joe Blow von der Straße: Carmelo ist super, Kyrie ist super, und wer ist überhaupt Amir Johnson?
SPOX: Haben Sie heute trotzdem noch Kontakt zu den Suns oder Ihren ehemaligen Kollegen?
Engelmann: Ja. Es gibt einen ehemaligen Video-Koordinator, der inzwischen bei den Golden State Warriors arbeitet: Nick U'Ren. Er hat dort einen relativ guten Schritt gemacht. Statt im Keller in Phoenix sitzt er jetzt bei jedem Warriors-Spiel in der ersten Reihe hinter der Bank (lacht). Er hat angeblich das berüchtigte "Death Lineup" entworfen und dafür natürlich viel Credit bekommen.
Und der frühere Defensiv-Coach Mike Longabardi - er wurde 2015 in Phoenix entlassen, kurz bevor auch Head Coach Jeff Hornacek gefeuert wurde - ging dann zu den Cavaliers und gewann dort gleich im ersten Jahr den Titel. Die beiden treffe ich immer, wenn ich zu den NBA-Finals gehe. Und jedes Jahr unterhalten wir uns wieder über unsere Zeit bei den Suns, die ja teilweise nicht ganz einfach war.
SPOX: Gibt es den u.a. auch öffentlich von Charles Barkley und Daryl Morey ausgetragenen Konflikt zwischen "Basketball Guys" und "Analytics Guys" innerhalb von Franchises denn bis heute, oder ist das inzwischen ein reines Medienthema?
Engelmann: Ich muss zugeben, dass ich Barkley nicht allzu oft zuhöre. Pauschal lässt sich das, denke ich, auch nicht beantworten. Vermutlich wird es in mehr als der Hälfte der NBA-Franchises zumindest noch kleinere Reibereien geben. Bei einem Team wie den Rockets, wo auch das Management aus dem Analytics-Bereich kommt, ist die Reiberei aber wahrscheinlich gering. Ähnlich wird es wohl auch bei den Spurs oder Warriors sein.
Auf der anderen Seite des Spektrums stehen z.B. die Sacramento Kings, wo zwei wichtige Analysten kurz nacheinander keinen Bock mehr hatten und gegangen sind, weil sie sich mit Vlade Divac gerieben haben. Ich persönlich würde mir natürlich mehr Daryl Moreys oder Sam Hinkies wünschen, die von der Analytics-Schiene ins Management kommen.
SPOX: In jedem Fall werden in der Liga immer mehr Analysten eingestellt. Was genau erhoffen sich die Teams davon?
Engelmann: Zunächst glaube ich, dass diese Welle inzwischen vorbei ist und die Analytics-Abteilungen anscheinend "voll" sind. Vor einigen Jahren konnten Teams da vielleicht noch einen größeren Wettbewerbsvorteil ergattern. Vor allem bei Trades erhofft man sich eine genauere Sicht darauf, welche Spieler tatsächlich wichtig sind, um Spiele zu gewinnen. So kann man sich eventuell unterbewertete und günstige Spieler holen, um aus Trades möglichst als Sieger hervorzugehen. Bestenfalls schützt man sich damit auch gegen Deals wie den Rondo-Trade, den die Mavericks 2014 gemacht haben.
Außerdem geht es natürlich um die detaillierte Vorbereitung auf Spiele, um die Frage, was Gegner gerne machen, von wo sie werfen, auf welche Tendenzen und Stärken man aufpassen muss.
SPOX: Gibt es denn Spieler, die dafür bekannt sind, das besonders für sich zu nutzen? Die versuchen, sich durch solche Statistiken einen Vorteil zu verschaffen?
Engelmann: Shane Battier war denke ich sehr Analytics-freundlich. Bei ihm war ja auch meistens vor dem Spiel klar, wen er verteidigen muss: den besten gegnerischen Flügel. Wenn man dann weiß, dass der z.B. den Dreier von einem Meter hinter der Linie oft und gerne nimmt, aber nicht besonders gut trifft, dann kann man ihm vielleicht absichtlich einen kleinen Schritt mehr Platz lassen, um das zu provozieren.
Vor allem schaut man sich aber als Team an, welche Angriffsspielzüge besonders viele Punkte bringen, um diese dann häufiger zu laufen. Das geht natürlich eher an den Trainerstab. Bei den Suns hatten wir beispielsweise das Pick-and-Roll mit Goran Dragic und Channing Frye, das einfach wunderbar funktioniert hat.
Abgesehen davon ist die simpelste Erkenntnis, die die Spieler mitnehmen können, dass man heutzutage einfach mehr Dreier werfen muss. Da sind die Analytics eindeutig. Wenn man sich anschaut, von wo Kevin Garnett immer geworfen hat... Da müsste er in der heutigen Zeit auf jeden Fall Dreier werfen und hätte das wahrscheinlich auch gekonnt.
SPOX: Da solche Dinge inzwischen alle Teams wissen und es keine Franchise mehr ohne Analytics-Personal gibt: Wie kann man sich da überhaupt noch einen Vorteil erarbeiten?
Engelmann: Vielleicht ganz einfach, indem man auch tatsächlich auf dieses Personal hört. Vielleicht bin ich da auch zu überzeugt von den Analytics. Aber in meiner Erfahrung waren doch sehr oft die Teams erfolgreich oder haben enttäuscht, von denen das statistisch auch so vorherzusehen war. Bestimmt könnten 75 Prozent der Teams das noch stärker befolgen.