SPOX: Die erste Frage muss natürlich sein: Wie kommt man als Student aus Karlsruhe dazu, von einem NBA-Team angeheuert zu werden?
Jeremias Engelmann: Ich habe Informatik studiert und in Karlsruhe selbst aktiv Basketball gespielt. Gegen Ende meines Studiums habe ich dann angefangen, mich für Metriken wie das Player Efficiency Rating (PER) von ESPN zu interessieren und darüber nachzudenken, wie man das vielleicht verbessern könnte. Ich habe dann begonnen, ein eigenes System zur Bewertung von Spielern zu entwickeln, das am Anfang viel zu kompliziert und auch gar nicht so toll war (lacht).
Es gab damals eine Metrik, die ziemlich viel Aufsehen erregt hat, das sogenannte Regularized Adjusted Plus-Minus (RAPM). Deren Entwickler wurde von den Washington Wizards eingestellt und durfte deshalb nichts mehr veröffentlichen. Also habe ich einfach versucht, das mit meinem einen Semester Statistik und meinem furchtbar schlechten Laptop nachzubauen.
Da das zu der Zeit niemand anderes öffentlich ins Netz gestellt hat, hatte ich dann plötzlich eine Website, die relativ beliebt war, und war auch im APBR Metrics Forum [ein Diskussionsforum rund um NBA-Statistiken, Anm. d. Red.] aktiv. Ein Freund hat mich dann den Phoenix Suns empfohlen.
SPOX: Wie entstand denn die Idee zu Ihrer eigenen Metrik, dem Real Plus-Minus?
Engelmann: Schon bevor die Suns bei mir angefragt haben, hatte ich versucht, das RAPM deutschen Basketball- und Fußballteams anzubieten. Ich wurde dann von drei Bundesliga-Teams zu einem Interview eingeladen, unter anderem Borussia Mönchengladbach. Dort hatte man ein ziemlich cooles internes Bewertungssystem: Scouts trugen für alle möglichen Jugendspieler subjektive "Stats" für Dribbelfähigkeit, Schusstechnik usw. ein, vergaben Punkte von 1 bis 10. Da kam mir der Gedanke, dass es doch sinnvoll wäre, solche Informationen nicht völlig ungenutzt zu lassen - wie es beim RAPM der Fall ist - und sie stattdessen mit in den Algorithmus zu füttern.
SPOX: Gerade im Fußball sind reine Plus-Minus-Statistiken ja besonders problematisch...
Engelmann: Ja, denn diese funktionieren am besten in Sportarten, in denen viele Punkte fallen und viel gewechselt wird. Im Fußball hat man eigentlich keines von beidem. Allerdings habe ich es damals trotzdem berechnet und die Ergebnisse waren gar nicht so schlecht. Messi und Ronaldo waren mit riesigem Abstand auf Platz eins und zwei. Für eine wirklich gute Metrik müsste man aber natürlich noch möglichst viele andere Statistiken mit einbeziehen: Passquote, Zweikampfquote, Schüsse usw.
SPOX: Im Basketball wären das dann also die Boxscore-Zahlen.
Engelmann: Genau. Aus den Boxscore-Stats kann man für jeden Spieler einen Startwert berechnen, den man dann mit den Plus-Minus-Daten verbindet. Der Vorteil der Plus-Minus-Zahlen ist dann, dass sie "alles sehen", was auf dem Feld passiert. Vor allem für die Defense hat man ja kaum Statistiken. Wenn ein Spieler zum Beispiel viele Steals und Defensiv-Rebounds holt, aber seine Mannschaft trotzdem immer schlechter verteidigt, wenn er auf dem Platz steht. Das kann man im Boxscore natürlich nur sehr schwer erkennen.
Außerdem stecken in einer Metrik wie RPM keine subjektiven Einschätzungen. Nur weil ich z.B. Draymond Green für einen guten Verteidiger halte, verändere ich nicht willkürlich Variablen, damit er im Ranking besser dasteht. Als John Hollinger in den 90ern sein PER gebaut hat, hat er angeblich - so erzählt man sich zumindest - so lange an den Faktoren geschraubt, bis eben Michael Jordan auf Platz eins war. So kommt man natürlich nicht zu einem möglichst genauen Bewertungssystem.
SPOX: Welchen grundsätzlichen Vorteil haben Statistiken denn gegenüber dem Eye Test? Kann ich nicht noch mehr erkennen, wenn ich einfach die Spiele anschaue?
Engelmann: Zum einen ist es vor allem in der NBA natürlich kaum möglich, tatsächlich jedes Spiel zu sehen. Es gibt ja 1230 Spiele pro Saison. Selbst für Hardcore-Fans ist es wahrscheinlich schwer, sich überhaupt die 82 Spiele des eigenen Teams anzugucken. Würde sich aber jemand jeden Tag hinsetzen, acht Stunden lang Spiele anschauen und sein eigenes, subjektives Bewertungssystem bauen... Ich könnte mir vorstellen, dass das vielleicht besser wäre als RPM.
Zum anderen habe ich das Gefühl, dass die menschliche Wahrnehmung oft verzerrt ist. Wenn Leute zum Beispiel viel NBA2K zocken und dort ein Spieler besonders abgeht, nehmen sie ihn vielleicht auch in der Realität als besser wahr, als er eigentlich ist. Ähnlich ist es bei Spielern, die oft in Highlights vorkommen, die spektakulär dunken, die man dadurch auch öfter sieht. Da liefern Stats oft eine objektivere und auch genauere Einschätzung.
Außerdem nimmt man gerade in der Defensive auch viele Dinge nicht so genau wahr. Da müsste man Spiele wahrscheinlich mit halber Geschwindigkeit anschauen, um bei jedem Spieler zu jeder Zeit zu sehen, was er richtig oder falsch macht.
SPOX: Bei welchen Spielern geht die Wahrnehmung denn besonders weit auseinander, wer wird in der Öffentlichkeit besonders über- oder unterbewertet?
Engelmann: Kobe Bryant war ja zwölfmal in einem der All-Defensive Teams. Dabei hat er oft nur dann sehr viel Energie in die Defense gesteckt, wenn die Lakers im Fernsehen gespielt haben oder er einen besonders bekannten Gegenspieler hatte. Insgesamt haben die Lakers aber in den meisten Jahren deutlich besser ohne ihn auf dem Feld verteidigt. Das kann irgendwie nicht sein. Da gibt es eine große Diskrepanz, weil oft einfach nur auf den Ball geguckt wird. Dabei werden Dinge wie Help Defense oder das Nachsetzen nach einem Ballverlust dann vernachlässigt.
Ein aktuelles Beispiel wäre Avery Bradley. Auch er spielt gute Verteidigung am Ball - das sieht auch ziemlich stressig für den ballführenden Spieler aus, weil Bradley so an seinen Gegner "klebt". Aber er ist eben nicht der Allergrößte. So können Gegner oft einfach über ihn werfen und auch für seine Help Defense ist das natürlich ein Problem. Aber wer achtet schon auf die Help Defense eines Shooting Guards, wenn er mit Freunden ein Spiel anschaut?
SPOX: In der Offensive liegen Eye Test und Stats meist weniger weit auseinander. Es ist einfach leichter zu beobachten, wer dort einen großen Beitrag leistet, und auch Statistiken können dies deutlich genauer messen. Gibt es trotzdem auch in der Offense Beispiele für eine ähnliche Diskrepanz zwischen Stats und der öffentlichen Wahrnehmung?
Engelmann: Da bin ich mir nicht so sicher wie in der Verteidigung. Aber ich denke, dass Volume-Scorer, die einfach viele Punkte pro Spiel machen, von vielen Fans überbewertet werden. Jedenfalls gegenüber Spielern, die zwar pro Minute gute Statistiken auflegen, aber eben weniger spielen. Für mich war Amir Johnson da immer das Paradebeispiel, der pro Minute immer sehr gute Stats hatte. Aber für Viele scheinen immer noch die Zahlen pro Spiel ausschlaggebend zu sein, obwohl das in meiner Welt keine große Rolle spielt.
Auch Cody Zeller oder Otto Porter sind Spieler, die sehr effizient, aber immer noch unterbewertet sind. Porter war letzte Saison z.B. einer der effizientesten Werfer der Liga. Solche Spieler werden vielleicht trotzdem unterbewertet im Vergleich zu Spielern wie Carmelo Anthony, Kyrie Irving oder DeMar DeRozan, die einfach viele Punkte raushauen.
Auch da ist Kobe Bryant wieder ein Beispiel. Seine Punkte sahen noch dazu oft kompliziert aus, weil er sich das Leben selbst schwer gemacht hat. Viel Isolation, Pump Fakes, Würfe gegen drei Verteidiger... Das sieht cool aus, wenn es reingeht. Aber es ist natürlich die Frage, ob das immer nötig war.